Am 21. Januar 2013 begann für Christoph Hess, den Vorstandsvorsitzenden des Villinger Leuchtenherstellers Hess AG, sowie seinen Vorstandskollegen Peter Ziegler (Finanzen) ein Alptraum. Beide wurden in einer Blitzaktion ihrer Vorstandsämter enthoben. Gegen sie waren massive Betrugsvorwürfe erhoben worden. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Hess AG, Tim von Delden ließ unverzüglich die Handys der beiden Firmenvorstände und ihren Zugang in die Firma sperren, ihre E-Mail-Zugänge löschen und ein Hausverbot erteilen.
„Man ist wie ohnmächtig“, beschreibt Christoph Hess, Spross des Villinger Familienunternehmens und damals Firmenchef in dritter Hess-Generation, diesen traumatischen Vorgang. „Das kam total unerwartet in dieser Wucht. Wie wenn man mit Vollgas gegen die Wand fährt.“
Das war allerdings nur der Anfang. Über viele Jahre standen Hess und Ziegler unter dem Verdacht, im Vorfeld des Börsengangs der Hess AG im Jahre 2012 schwerste Wirtschaftsstraftaten begangen zu haben. Sie sollen systematisch und im großen Stil betrogen und manipuliert haben, um die Zahlen des Unternehmens für den Börsengang zu schönen, warf ihnen die Staatsanwaltschaft vor. Wenn sich all diese Verbrechen vor Gericht bewahrheitet hätten, sie wären beide jahrelang ins Gefängnis gewandert. Ein weiteres einschneidendes Ereignis: Ein halbes Jahr nach Bekanntwerden der Vorwürfe wurden Hess und Ziegler vor den Augen ihrer Familienangehörigen zu Hause verhaftet und in Handschellen dem Richter am Landgericht Mannheim vorgeführt. Der setzte sie nach eigehender Prüfung schnell wieder auf freien Fuß: Viel zu dünn erschienen ihm die Haftbegründungen der Staatsanwaltschaft.

Doch die Vorwürfe lasteten jahrelang auf den Angeklagten, weil der Strafprozess immer wieder verschoben wurde. Die zuständige Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Mannheim war mit umfangreichen Verfahren chronisch überlastet. Zwischen der Anklageerhebung im Jahr 2015 und dem Prozessbeginn lagen fünf lange Jahre. Für Christoph Hess und Peter Ziegler endete dieser Alptraum daher erst vor wenigen Tagen. Hess wurde zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten, Ziegler zu 17 Monaten auf Bewährung verurteilt (wir berichteten).
Nach langen Jahren der Ermittlungen und des Wartens steht am Ende für Christoph Hess also nur eine geringfügige Verurteilung. Das umfassende Betrugs-Szenario aus der Anklageschrift hatte vor den Augen der Richter keinen Bestand. So ist es kein Wunder, dass Christoph Hess dieses Urteil mit großer persönlicher Genugtuung aufnimmt und diesen Richterspruch – wenn auch als sehr späte – Rehabilitation seiner Person und seines Rufs betrachtet. Ihm ist es wichtig, endlich nicht mehr als Betrüger und Verbrecher am öffentlichen Pranger zu stehen. „Ich habe immer gewusst, dass ich nicht betrogen habe“, sagt er heute. Und jetzt weiß es nicht nur er, so hofft er, sondern auch alle anderen, die ihn für schuldig hielten oder an ihm gezweifelt haben.

In der Tat hat das Gericht die schweren Betrugsvorwürfe fallen gelassen. Das Gericht erkannte an, dass es beim Leuchtenproduzenten Hess tatsächlich erhebliche Entwicklungskosten gegeben habe, die keineswegs frei erfunden gewesen seien, wie dies in der Anklageschrift zu lesen stand. Es gab keinen systematischen Betrug, stellte das Gericht fest. Und es habe keine persönlichen Bereicherungsabsichten der Angeklagten gegeben.
Was es aber gab: Beim Versuch der Unternehmensleitung, die Entwicklungskosten in die Bilanz zu bringen, um mehr Gewinne und Umsätze auszuweisen, hätten die Verantwortlichen gegen die Grundsätze einer ordentlichen Buchhaltung verstoßen. So blieb am Ende vor allem der Vorwurf der „unrichtigen Darstellung“ in den Bilanzen. „Da ist sicher manches grob gemacht worden, das ist unbestritten“, räumt Christoph Hess im Rückblick ein. Wobei er sich auch fragt, inwieweit die Buchungs-Umsetzung in der Verantwortung eines Vorstandsvorsitzenden steht. Und ob diesbezüglich nicht auch die zahlreichen und teuren Berater des Unternehmens in der Verantwortung stehen müssten.
Das sagt der Anwalt
Sein Strafverteidiger Hartmut Girshausen aus München bewertet diese unrichtige Darstellung vor allem als eines: Als „Verletzung von Formvorschriften“. Die Angeklagten hätten nicht betrogen oder wider besseres Wissen manipuliert. Der Kern der Vorwürfe sei darin begründet, dass man die zugrunde liegenden Vorgänge nicht hinreichend dokumentiert habe. Die weiteren zur Verurteilung gelangten Straftatbestände seien letztlich lediglich eine Folge der unrichtigen Darstellung gewesen, da die Zwischen- und Jahresabschlüsse auch Gegenstand des Börsenprospekts geworden und bei Kreditanträgen vorgelegt worden seien. Aus diesem Grund sei die Verurteilung so geringfügig ausgefallen, unterstreicht der Anwalt. Dass sich die Angeklagten zu keinem Zeitpunkt bereichert hätten, zeige auch die Tatsache, dass es nicht zu einer Einziehung von Vermögenswerten gekommen sei.
Doch wie konnte sich diese Fehler zu einem solchen Desaster für das Unternehmen auswachsen? Mit einer Insolvenz, der Vernichtung zahlreicher Arbeitsplätzen, vor allem im Werk Löbau, aber auch in Villingen und andernorts, sowie einer Kapitalvernichtung in dreistelliger Millionenhöhe, bei der nicht nur die Familie Hess, sondern auch große und kleine Kapitalanleger unter die Räder kamen? Die Antworten darauf haben durchaus dramatische Züge. Der Auslöser all dessen war für Christoph Hess die Verbreitung der ersten Betrugsanschuldigungen gegen ihn und Peter Ziegler. Daraus sei eine Lawine unglücklicher Umständen in Gang gesetzt wurde, deren zerstörerische Eigendynamik auch dem Verursacher der Beschuldigungen völlig entglitten sei.

Die Vorwürfe von betrügerischen Machenschaften in der Buchhaltung hatte ein leitender kaufmännischer Angestellter der Hess AG Anfang 2013 an den Aufsichtsratsvorsitzenden Tim von Delden gemeldet. Hess ist überzeugt, dass es sich bei diesem angeblichen „Whistle-Blower“ lediglich um einen von Eigennutz getriebenen „Denunzianten“ gehandelt habe. Mögliches Motiv: „Er hat wohl gedacht, er bekommt Zieglers Posten“, sagt Hess. Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da. Vier Zeugen äußerten im Prozess vor dem Landgericht Mannheim ebenfalls, der „Whistle-Blower“ sei auf den Posten von Finanzvorstand Peter Ziegler scharf gewesen und habe versucht, diesen mit Betrugsvorwürfen zu diskreditieren.

Damit, so sieht es Hess, setzte eine Eskalationsspirale ein. Der Aufsichtsratsvorsitzende von Delden habe in einer Blitzaktion im Aufsichtsrat die beiden beschuldigten Vorstände abgesetzt. Für Hess eine klare „panische Reaktion“. Im nächsten Schritt veröffentlichte der Aufsichtsratschef „gegen alle Ratschläge aus dem Aufsichtsrat“ umgehend eine Ad-hoc-Meldung an die Börsenaufsicht über den angeblichen Betrug. Was folgte, ist bekannt: Die Banken sperrten aufgrund der Betrugsvorwürfe alle liquiden Mittel des Unternehmens, das nur wenige Wochen zuvor an die Börse gegangen war. Der Aktienkurs brach ein, das Unternehmen musste bald darauf Insolvenz anmelden.
Damit war die wirtschaftliche Katastrophe vollzogen. Doch mit den Folgen hatten die beschuldigten Vorstände noch jahrelang zu kämpfen. Denn eine Entlastung für Hess und Ziegler kam nicht zustande. Im Gegenteil, sie wurden noch stärker belastet. Nach Ansicht von Christoph Hess muss dem Aufsichtsratsvorsitzenden Tim van Delden, den der holländische Finanzinvestor HPE bei Hess installiert hatte, Anfang 2013 bald gedämmert haben, dass er wahrscheinlich einen fatalen Fehler mit seiner Veröffentlichung begangen hat. Er habe daraufhin Hausanwälte von HPE mit einem internen Untersuchungsbericht beauftragt, vermutlich mit dem Ziel, so Hess, sich von der Verantwortung reinzuwaschen und die entlassenen Vorstände, also ihn und Peter Ziegler, zu belasten.
Fatale Langzeitwirkung
Dieser Untersuchungsbericht, rekapituliert Hess, habe eine fatale Langzeitwirkung entfaltet: Die Ermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft, sagt er, hätten nicht mehr unvoreingenommen ermittelt, sondern sich an den Vorwürfen der vermeintlich versierten Wirtschaftsanwälte orientiert und versucht, diese zu bestätigen. Dass es sich bei diesem Bericht um ein „einseitiges Parteigutachten“ gehandelt habe, das den Anwälten eine Million Euro Honorar eingebracht hat, habe dabei ebenso wenig eine Rolle gespielt wie die Tatsache, dass das Papier von seinen Verfassern bis heute nicht unterschrieben worden sei.
Auch der Insolvenzverwalter der Hess AG, der Stuttgarter Anwalt Volker Grub, habe diese Vorwürfe übernommen und immer wieder öffentlich wiederholt. „Er hat sich als Insolvenzverwalter, Staatsanwalt und Richter geriert“, kritisiert Hess im Nachhinein. Auch dies habe die Stimmung in der Öffentlichkeit massiv beeinflusst. Diese Angriffe gegen ihn Peter Ziegler hatten nach Ansicht von Christoph Hess durchaus Kalkül. Grub hatte die beiden Vorstände mehrfach auf Schadenersatz verklagt, laut Hess mit den Anwälten „seiner eigenen Kanzlei“. Die Zivilklagen seien für die Grub-Kanzlei eine „Cash-Cow“ gewesen, mit denen viel verdient worden sei. „Ich bin mir sicher, dass es ein großes Eigeninteresse des Insolvenzverwalters gab, die Vorwürfe gegen uns zu befeuern“, rekapituliert Hess.
In die Ecke gedrängt
Massive Gegenwehr in der Öffentlichkeit hat der Ex-Vorstand nach eigenem Bekunden nicht ernsthaft erwogen. Er fühlte sich „in die Ecke gedrängt, angezählt und psychisch nicht in der Lage“, sich nachhaltig zu wehren. Auch seine Anwälte hätten öffentliche Aussagen zur Anklage nie erwogen. Strafverteidiger kritisierten gewöhnlich keine Anklageschriften, sondern spielten ihre Karten im Prozess aus.
Das haben sie dann auch getan, aber erst Jahre später. Äußerst dankbar äußert sich Christoph Hess, dass das Gericht in Mannheim die Sachverhalte „im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft“ unvoreingenommen und präzise untersucht habe. „Das hat mir den Glauben an den Rechtsstaat wieder zurückgegeben“, stellt er erleichtert fest.
„Indirekte Haft“
Doch er hadert mit den langen Jahren, die das gesamte Verfahren gedauert hat. „Menschenunwürdig“ sei dies, sagt er. „Das war wie eine indirekte Haft, ich war in meiner Freiheit beschränkt und ich habe wahrscheinlich nicht reparable gesundheitliche Folgen davongetragen.“ Dass ihm diese Verfahrensdauer im Urteil mit gerade vier Monaten Haft, die als verbüßt betrachtet werden, angerechnet wurden, sei angesichts der massiven Folgen der Anklage auf sein Leben „eine Farce“.
Die persönlichen Folgen beschreibt der Unternehmer als hart und vielschichtig. „Ich war persona non grata“, sagt der Mann, der jahrelang als Unternehmer, im Vereinsleben, als Mäzen und Förderer des Kulturlebens, wie kein anderer eine herausragende öffentliche Rolle in Villingen gespielt hat. Mit den Beschuldigungen wurde dies schlagartig anders. „Ich habe mich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und wollte keine Angriffsfläche bieten“, berichtet er und spricht von „Selbstisolation“, die ihn zusätzlich belastet habe.
Isoliert und einsam
Um ihn sei es „sehr einsam“ geworden. „Ich habe alle Freunde verloren, die keine Freunde waren“. sagt er. Doch einige echte Freunde seien geblieben, auch ein paar ehemalige Mitarbeiter hätten Solidarität gezeigt. Seine Heimatstadt Villingen zu verlassen, das habe er sich ernsthaft überlegt, gesteht Hess, „vor allem am Anfang“. Doch damit wären auch engste familiären Bindungen weggebrochen. Daher ist er geblieben. Trotz der großen Drucksituation, so freut sich der zweifache Familienvater, haben die engen Familienband und seine Ehe die Belastungen ausgehalten.
Christoph Hess äußert sich auch zu seiner Krankheit. Einige Leute verdächtigten ihn, er habe sich in eine Krankheit geflüchtet, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. Hess weist dies von sich und stellt klar: Seine Krankheit hätte ihn in keiner Weise vor einer Strafverfolgung schützen können. Sie sei auch keine Flucht. Sein Lebenswerk sei zerstört worden, er sei sozial geächtet und angefeindet worden. Es müsste für jeden nachvollziehbar sein, dass dies mit erheblichen psychische Folgen verbunden sei. Nach einer längeren Behandlung sei er daher, wie dies üblich ist, unter staatliche Betreuung gestellt worden. Dessen ungeachtet habe er sich in vollem Umfang dem Strafprozess gestellt.
Weitere Mitglieder der Familie Hess hätten ebenfalls zum Teil schwere gesundheitliche Schäden davon getragen. Christoph Hess führt all dies auf Begleitumstände des Unternehmensverlusts und der Strafverfolgung zurück, die jahrelang wie ein Alptraum auf der Familie gelastet hätten. Hinzu komme der schwere Vermögensverlust in zweistelliger Millionenhöhe, den die Familie habe hinnehmen müssen.
Der Blick nach vorne
Gleichwohl scheint Christoph Hess bemüht, sich nicht allzu lange mit der schweren Last der Vergangenheit herumzuplagen, sondern positiv nach vorne zu schauen. Schon seit 2013 ist er wieder, dank seiner Kontakte, beruflich in Sachen Beleuchtung tätig, arbeitet mit zwei weiteren Mitarbeitern bei der Firma „Novaday“, einem Handelsgeschäft für Innenbeleuchtungen. Ursprünglich die Deutschlandvertretung eines französischen Unternehmens ist der Kleinbetrieb mit Sitz im Villinger Technologiepark inzwischen eine eigenständige Firma.
„Was ich noch habe, das habe ich mir dort selbst erarbeitet“, sagt er. Das Privatvermögen sei „alles weg“. Die finanziellen Rücklagen habe er für seine Verteidigung aufgebraucht. Hadern will er nicht mit dem Schicksal. „Es macht keinen Sinn im Zorn zurückzuschauen. Es lässt sich nichts zurückholen“, lautet seine Erkenntnis. Ein paar Tage nach dem Urteil, konstatiert er, fühle er sich schon deutlich besser. „Ich will nun nach vorne schauen.“ Ein Gefühl von Freiheit kann er dafür bereits genießen: „Ich muss mich jetzt nicht mehr verstecken.“