Der klein gewachsene, schmächtige Mann auf der Anklagebank wirkt vollkommen harmlos. Und doch sieht er sich vor Gericht mit Vorwürfen konfrontiert, die menschlich schwer zu begreifen sind und selbst erfahrene Ermittler erschüttert haben dürften.

Álvaro Z. (Name geändert) soll von 2016 bis zu seiner Verhaftung 2020 mindestens 14 Kinder und Frauen im Alter von 4 bis 57 Jahren betäubt, sexuell missbraucht und dabei seine zahlreichen Übergriffe mit dem Handy gefilmt haben. Der Tages-Anzeiger hatte zuerst über den Fall berichtet. Die meisten Tatorte befinden sich rund 15 Autominuten von Konstanz entfernt im Kanton Thurgau.

Seit Dienstag muss sich der heute 39-jährige Beschuldigte vor dem Bezirksgericht Frauenfeld wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern, sexueller Nötigung, mehrfacher Vergewaltigung und Schändung sowie weiterer Delikte verantworten. Auf den von Álvaro Z. erstellten Handyvideos basiert die Anklage der Staatsanwaltschaft Kreuzlingen. Seine Verteidigerin und eine Opferanwältin wollten sich zu dem Fall auf Anfrage nicht äussern.

Vorgehen erinnert an Fall um Gisèle Pelicot

Als der Vorsitzende Richter dem Beschuldigten einen sexuellen Missbrauch nach dem anderen detailliert schildert, senkt der 39-Jährige immer wieder seinen Kopf, verbirgt sein Gesicht in seinen Händen und beginnt zu weinen. „Ich bin der Mensch, der das im Video getan hat, aber ich erkenne mich darin nicht wieder. (…) Es ist grauenhaft, meine eigenen Taten noch einmal zu hören“, sagt der Beschuldigte.

Das systematische Vorgehen von Álvaro Z. weist Parallelen zum international bekannten Fall um Gisèle Pelicot auf. Die 72-jährige Französin wurde über zehn Jahre hinweg von ihrem damaligen Ehemann betäubt und in wehrlosem Zustand rund 80 Männern zur Vergewaltigung überlassen. Auch in diesem Fall filmte der Täter seine Taten. In beiden Fällen wurden die Behörden eher zufällig auf den massenhaften Missbrauch aufmerksam.

300 Videos und Bilder mit verstörenden Inhalten

Eine Strafanzeige wegen sexueller Belästigung gegen Álvaro Z. von einem der 14 Opfer wurde von den Thurgauer Behörden zunächst „mangels Beweisen“ nicht verfolgt. Rund 18 Monate später wandte sich eine Mutter an die Kantonspolizei Thurgau: Ihr Nachbar Álvaro Z. habe ihre achtjährige Tochter aufgefordert, seinen Penis anzufassen. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte das Mädchen ihrer Großmutter von einem ähnlichen Vorfall erzählt.

Anfang August 2020, mehr als einen Monat nach der Anzeige der Mutter, befragten die Ermittler die Achtjährige. Drei Wochen später verhaftete die Polizei den 39-Jährigen in seiner Wohnung und durchsuchte diese. Nicht die Polizei, sondern eine auf IT-Forensik spezialisierte Privatfirma wertete die sichergestellten Handys, Laptops und USB-Sticks des Beschuldigten aus. Noch bevor ein Ergebnis vorlag, wurde Álvaro Z. nach drei Tagen Untersuchungshaft wieder freigelassen.

Seine Verteidigerin verbirgt das Gesicht des Beschuldigten mit ihrem Schal, als er aus dem Bezirksgericht Frauenfeld geführt wird.
Seine Verteidigerin verbirgt das Gesicht des Beschuldigten mit ihrem Schal, als er aus dem Bezirksgericht Frauenfeld geführt wird. | Bild: René Laglstorfer

Die Forensiker fanden später auf den Datenträgern rund 200 Bilder und Videos mit Kinderpornografie, Zoophilie und Gewaltvideos, die der Beschuldigte seit dem Jahr 2010 aus dem Internet heruntergeladen haben soll. Daneben entdeckten sie jedoch auch fast 100 einschlägige Videos, die Álvaro Z. eigenhändig aufgenommen hatte.

Diese Videos sollen den Beschuldigten beim sexuellen Missbrauch von 14 meist bewusstlosen Opfern zeigen. Ein laut den Ermittlern etwa fünf- bis siebenjähriges Mädchen konnte bis heute nicht identifiziert werden. Zwei Monate nach seiner ersten Festnahme wurde Álvaro Z. erneut inhaftiert. Seit Ende 2021 ist er im vorzeitigen Strafvollzug.

Versuchte er, selbst eine 80-Jährige zu missbrauchen?

Offenbar fühlte sich Álvaro Z. mit den Jahren immer sicherer. Bei zwei gefilmten Missbräuchen ist eine damals Fünfjährige gar bei Bewusstsein. Im Video fordert der Beschuldigte das Mädchen auf, sein Genital zu stimulieren. Laut Anklageschrift vergewaltigte er das Mädchen kurz darauf. Ohne die penible Videodokumentation seiner eigenen, mutmaßlichen Sexualverbrechen wären diese womöglich nie angeklagt worden.

Zu den Opfern von Álvaro Z. gehören auch sieben Frauen im Alter von 24 bis 57 Jahren. Selbst bei einer 80-Jährigen soll er spät in der Nacht unbefugt in die Wohnung eingedrungen sein. Als die Frau aufwachte und ihn anschrie, verließ er die Wohnung. Laut Anklage habe er seinen Plan, die schlafende und wehrlose 80-Jährige sexuell zu missbrauchen, dadurch nicht umsetzen können.

Wurde der Beschuldigte als Kind selbst ein Missbrauchsopfer?

Vor Gericht sagte der Beschuldigte bei jedem der zahlreichen Tatvorwürfe mit einer Ausnahme annähernd dieselben Worte: „Es tut mir sehr, sehr leid für die Opfer und ihre Familien. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Seine eigenen soll Álvaro Z. nicht missbraucht haben, allerdings deren Freundinnen, die meist als Übernachtungsgäste zu Besuch waren.

Immer wieder spricht Álvaro Z. seine eigenen Missbrauchserlebnisse an, die er als Kind erlebt habe. Als er vier Jahre alt gewesen sei, sei er in seinem Heimatland in Lateinamerika von seiner Mutter bei seiner Großmutter zurückgelassen worden, während sie in der Schweiz gearbeitet habe. In einer Scheune beim Haus seiner Großmutter soll ein Mann ihn „häufig“ sexuell missbraucht haben. „Es tut mir sehr weh, dass ich so geworden bin wie er“, sagt der Beschuldigte.

Während des Missbrauchs habe ihn sein Peiniger gelobt, wie er es später bei seinen Opfern auch machen sollte. „Jetzt bin ich auch ein Täter geworden. (…) Für mich ist es sehr schwer, zu verstehen, dass ich in der Lage war, den Mädchen so etwas anzutun“, sagt Álvaro Z. Er betonte, dass die eigenen Missbrauchserfahrungen keine Entschuldigung für seine Taten sein sollen.

Mehrmals führt der Beschuldigte an, wie sehr er hoffe, dass seine Opfer keinen bleibenden Schaden aufgrund der Taten davontrügen, wie es bei ihm der Fall gewesen sei. „Halten Sie das für realistisch?“, will der Richter von ihm wissen. Álvaro Z. erwidert: „Ich weiß, wie sich die Gedanken und Depressionen anfühlen und dass die Probleme im Leben zurückkommen.“

Landesverweisung von 15 Jahren beantragt

Seine Depressionen habe er mit Alkohol, Ketamin und Antidepressiva zu bewältigen versucht. Aufgrund des hohen Konsums könne er sich an einige Tatvorwürfe nicht mehr erinnern.

Am Ende des ersten Prozesstages zeigte sich der Álvaro Z. fast vollständig geständig und reuig. „Ich wünschte, es gebe etwas, damit ich meine Taten wieder rückgängig machen könnte. Aber es gibt nichts“, erklärt der Beschuldigte.

Die Staatsanwaltschaft Kreuzlingen fordert für Álvaro Z. eine Gefängnisstrafe und eine ambulante Therapie. Das genaue Strafmaß wird die Staatsanwältin erst in den nächsten Tagen bekannt geben. Geht es nach ihr, soll der Beschuldigte ein Kontakt- und Rayonverbot zu allen Opfern erhalten, ein lebenslanges Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen und eine Landesverweisung für 15 Jahre.

Das Urteil wird für den 12. Dezember erwartet. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung.