Der Anblick muss für die Ermittler schockierend gewesen sein, als sie im Sommer 2019 frühmorgens ein luxuriöses Einfamilienhaus in einer kleinen Landgemeinde durchsuchten, wenige Kilometer von der Grenze zum Landkreis Waldshut entfernt: Im Erdgeschoss stießen sie auf einen Käfig aus Beton und Holz, rund 1,5 Meter lang, einen Meter breit und einen Meter hoch, fensterlos und mit einem Gitter aus Metallstäben als Tür. Darin schlief eine junge Frau.
An den Wänden des Haus im Bezirk Andelfingen hingen eine Karte der Schweiz und zahlreiche Lernzettel. Auf dem Boden neben der Matratze lagen ein Stofftier und ein Kinderbuch, eine Schüssel mit Essensresten und ein Kübel mit Toilettenpapier. Das belegen Fotos aus den Ermittlungsakten der polizeilichen Aktion „Bound“ – übersetzt: gefesselt. Sie liegen dem Tages-Anzeiger vor, der zuerst über den Fall berichtet hatte.
Tagsüber Haushilfe, in der Nacht im Käfig
„Heute Morgen haben wir Sie schlafend in einem Käfig angetroffen – erklären Sie mir bitte diese eher außergewöhnliche Schlafgelegenheit?“, fragte eine Polizistin die Brasilianerin Linda S. (alle Namen geändert) gemäß Vernehmungsprotokoll wenige Stunden nach ihrer Befreiung. „Ich musste immer im Käfig schlafen“, antwortete sie. Ohne fremde Hilfe habe sie ihr Verließ nicht verlassen können – nicht einmal, um auf die Toilette zu gehen.
Nur tagsüber sei sie, so sagte die 30-Jährige aus, aus dem Käfig gelassen worden, um zu putzen, zu kochen, Hausarbeit zu erledigen. Auch zum Lernen habe sie in den rund um die Uhr videoüberwachten Käfig gemusst, seit sie vor vier Wochen in die Schweiz gekommen sei, um Deutsch zu lernen.
Freiheitsberaubung und Menschenhandel
Kurz vor Linda S. lebte und arbeitete die 22-jährige Philippinin Sofia R. fast zehn Monate in dem Haus. „Von Anfang an haben sie mich gefesselt und jeden Tag in den Käfig gesperrt“, gab sie zu Protokoll. Erst ihre Flucht und Anzeige bei der Polizei führten zur Befreiung de Brasilianerin und zur Verhaftung des Schweizer Tatverdächtigen und dessen philippinischer Ehefrau. Gustav Wohlenweber nannte er sich im Internet, wo er seine Opfer anwarb.
Der Mittvierziger und seine deutlich jüngere Frau saßen weniger als fünf Monate in Untersuchungshaft und sind seit fast fünf Jahren auf freiem Fuß. Am 17. und 18. September muss sich das Paar vor dem Bezirksgericht Andelfingen verantworten. Wohlenweber werden mehrfache Freiheitsberaubung, Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft, Urkundenfälschung und weitere arbeits- und ausländerrechtliche Delikte vorgeworfen.
Sexueller Sadismus diagnostiziert
Die Anschuldigungen gegen die Ehefrau: Sie soll ihre philippinische Landsfrau und die Brasilianerin überwacht und mindestens einmal pro Woche, wenn ihr Mann nicht zu Hause war, eingesperrt haben. Außerdem soll sie von der Arbeitskraft der Frauen profitiert haben, die ihr Mann ohne Aufenthalts- und Beschäftigungserlaubnis angeworben hatte. Ihr Verteidiger wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Dem Vernehmen nach bestreitet sie die Vorwürfe.
Wohlenweber ist einschlägig vorbestraft. 2014 wurde der IT-Manager wegen Gefährdung des Lebens und Nötigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Ein Psychiater diagnostizierte damals einen sexuellen Sadismus. 1,5 Jahre später hob das Gericht die angeordnete ambulante Therapie auf, weil ein psychiatrischer Gutachter von einem „geringen Rückfallrisiko“ ausgegangen war.
1500 Anwerbegespräche mit Frauen
Begonnen hat der neue Fall mit dem Käfig im Dezember 2017, als Wohlenweber auf einer Au-pair-Webseite ein Inserat schaltete. Dabei wählte er das Pseudonym „Ramona“, um einen vertrauenswürdigen Eindruck zu erwecken, schreibt die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage. Sie wirft dem Beschuldigten vor, gezielt nach jungen Frauen gesucht zu haben, um mit ihnen Praktiken aus der BDSM-Szene (Bondage, Dominance, Sadism & Masochism, Anm.) auszuleben.
Laut einer Aktennotiz, die sich auf die Telefonauswertung bezieht, soll Wohlenweber rund 1500 Anwerbegespräche mit Frauen geführt haben. Aus den Ermittlungsakten geht zudem hervor, dass mindestens fünf Frauen eine Zeit lang in den drei Käfigen im Haus eingesperrt waren.
100 Franken Lohn für 45 Stunden Arbeit
Eine von ihnen war die 22-jährige Philippinin Sofia R., die sich auf das Inserat meldete und zuvor ein knappes Jahr als Au-pair im Tessin gearbeitet hatte. Wohlenweber gaukelte ihr vor, Ramonas ebenfalls erfundener Kollege suche eine Haushaltshilfe und biete einen Fünf-Jahres-Arbeitsvertrag ohne Auflösungsmöglichkeit.
Darin war eine wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden vorgesehen, wobei Sofia R. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zur Verfügung stehen und per Kamera überwacht werden sollte. Sie werde nachts und bei Abwesenheit des Arbeitgebers in einem Raum ohne Toilette eingeschlossen. Für dies alles erhalte sie einen Monatslohn von 400 Franken.
Sofia R. lehnte ab. Sie schrieb Wohlenweber, das Angebot klinge für sie wie Prostitution und sie könne das Einsperren nicht akzeptieren.
Unhaltbare Konditionen
Doch Wohlenweber ließ nicht locker. Laut Staatsanwaltschaft wusste er, dass das Schweizer Visum der Frau bald ablaufen würde, und versprach ihr, eine neue Aufenthaltsbewilligung für sie zu beantragen. Nun gab er sich als Tamara Bucher von der von ihm erfundenen International Maids School (IMS) aus. So unterbreitete er der jungen Philippinin einen Zweijahresvertrag und führte sich dabei selbst als Arbeitgeber an.
Darin waren weitgehend dieselben Konditionen wie im ersten Angebot angeführt. Allerdings war der Monatslohn auf 800 Franken verdoppelt und eine kostenlose Ausbildung im Hotel- und Restaurantmanagement an der erfundenen IMS zugesagt. Außerdem müsse die 22-Jährige tagsüber eine Arbeitsuniform und nachts ein weißes Nachthemd tragen sowie alle elektronischen Geräte abgeben. Zudem würde der Zugang zu Telefon und Internet streng limitiert.
Putzen, kochen und Gäste bewirten
Sofia R. befand sich laut Staatsanwaltschaft in einer prekären Situation. Sie verfügte lediglich über 300 Franken Erspartes, wusste nicht, wie sie in die Philippinen zurückkehren sollte, und glaubte, sie habe sich mit dem abgelaufenen Visum bereits strafbar gemacht. Die 22-Jährige nahm das Angebot an.
In Wohlenwebers Haus im Bezirk Andelfingen wurde sie durchsucht und musste alle ihre Sachen abgeben, auch Pass und Handy. Nachts wurde sie bis 9 Uhr früh in einen Käfig gesperrt, wobei sie das weiße Nachthemd tragen musste. Eine Infrarotkamera lieferte auch in der Dunkelheit Videobilder, die der Beschuldigte ohne ihr Wissen speicherte.
Tagsüber musste Sofia R. ein schwarzes Dienstkleid tragen und hatte einen strikten Arbeitsplan, laut dem je nach Wochentag das Haus, die Garage und das Auto zu putzen waren. Fast täglich musste sie Mittag- und Abendessen kochen, Wäsche waschen und bügeln. Samstags, wenn Gäste kamen, musste die junge Frau sie bewirten.
„Ich konnte praktisch nicht schlafen“
„In der verbliebenen Zeit sperrte der Beschuldigte die Geschädigte täglich mindestens 15 Stunden in einen (…) kleinen Käfig“ und „fesselte sie ab dem zweiten Arbeitstag (…) mit Ausnahme von Ostern, ihrem Geburtstag und Neujahr“, heißt es in der Anklageschrift.
Wohlenweber erstellte Lern- und Prüfungsunterlagen, tat aber so, als würden sie von der erfundenen Schule herausgegeben. Selbst zum Lernen musste die junge Frau wochentags von 15 bis 19 Uhr in den Käfig: „Dabei konnte ich gefesselt kaum die Seiten umblättern.“ So habe sie im Käfig Hand-, Fuß- und Halsfesseln mit einer Verbindungskette tragen müssen, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkten.
Einmal pro Woche prüfte Wohlenweber die Frau im Käfig. Machte sie einen „Fehler“, musste sie eine der vorgegebenen Strafen auswählen. „Einmal kam ich wegen des Busses 10 Minuten zu spät. Zur Strafe wurde ich strenger mit den Händen auf dem Rücken gefesselt. Ich konnte so praktisch nicht schlafen und hatte Schmerzen in den Schultern“, sagte die 22-Jährige aus.
Klima der Angst und Einschüchterung
Nach etwa einem Monat sagte Sofia R., dass sie das nicht mehr mitmache. „Da hat er meine Hände hinter den Rücken gefesselt und mir gedroht, zur Polizei zu gehen. Ich hätte ja noch kein neues Visum“, sagte sie später aus. Sie habe Angst gehabt, verhaftet und ausgewiesen zu werden. „Ich hoffte auf ein neues Visum, um meine Familie unterstützen zu können. Deshalb harrte ich aus.“
Laut Staatsanwaltschaft hat Wohlenweber ein Klima der Angst und eine starke psychische Drucksituation erzeugt, um die Frau gefügig zu machen und seine sexuell-sadistische Neigung an ihr auszuleben. Zudem bereicherte er sich finanziell, da der Lohn viel zu niedrig war und er keine Sozialabgaben abführte. Auch sein Versprechen, für Sofia R. ein neues Visum zu beantragen, hielt er nicht ein.
Nach fast zehn Monaten erkundigte sich Sofia R. per Mail beim Migrationsamt in Zürich, ob auf ihren Namen ein Visum beantragt wurde. „Als ich realisierte, dass er mich betrogen hatte, wollte ich die philippinische Botschaft kontaktieren, damit sie mir helfen, nach Hause zurückzukehren“, sagte die 22-Jährige aus. „Mein Freund sagte aber, ich müsse unbedingt zur Polizei, nur schon, um den anderen Frauen zu helfen.“
Anonyme Warnung Tage vor der Razzia
Genau zwei Tage nach der Flucht der Philippinin meldete sich die erwähnte Brasilianerin Linda S. auf eine Facebook-Anzeige von Wohlenweber. Getarnt als „Michelle Brunner“ suchte er ein Au-pair-Mädchen und bot im Gegenzug Deutschunterricht an.
Zwei Monate später zog die 30-Jährige bei dem Paar ein, und das verstörende Szenario mit Käfig und Arbeitsdienst begann von vorne. „Er verspricht den Frauen, sie könnten zur Schule gehen und in der Schweiz arbeiten. Viele Frauen aus Asien sind verzweifelt, weil es schwierig ist, eine Arbeitsbewilligung für Europa zu bekommen“, erklärte Sofia R. der Polizei.
Vier Tage bevor die Ermittler Linda S. aus dem Käfig befreiten, erhielt Wohlenweber eine anonyme Warnung: „Lieber Gustav, nächste Woche macht Polizei Kontrolle bei dir! Das Mädchen muss weg!“ Von wem die Nachricht stammt, ist bis heute unklar – genauso, weshalb rund zwei Monate von der Anzeigeerstattung bis zur Hausdurchsuchung verstrichen.
Eher milde Strafen beantragt
Die Staatsanwaltschaft Zürich hat sich mit Wohlenwebers Verteidiger auf eine Geldstrafe von 11.000 Franken und eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten für seinen Mandanten geeinigt. Davon sind lediglich neun Monate zwingend abzusitzen, der Rest auf Bewährung. Da der Mittvierziger knapp fünf Monate in U-Haft saß, müsste er noch für rund vier Monate ins Gefängnis. Auf Freiheitsberaubung sieht der Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe vor.
Zudem ist im Urteilsvorschlag eine ambulante Behandlung von Wohlenweber durch einen Sexualtherapeuten vor. Als Entschädigung zahlte der gut verdienende IT-Manager beiden Opfern insgesamt knapp 16.000 Franken. Für seine Ehefrau aus den Philippinen ist eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung und eine Landesverweisung von fünf Jahren beantragt.
Die Urteilsverkündung ist am 18. September geplant. Es gilt die Unschuldsvermutung.