„Es geht heute um abscheuliche Missbrauchstaten, (…) ihre Vertuschung mit K.-o.-Tropfen und darum, wie Eltern von geschändeten Kindern damit umgehen sollen“, sagte die Staatsanwältin am Bezirksgericht Frauenfeld in ihrem Plädoyer.

Darin wirft sie dem 39-jährigen Álvaro Z. (Name geändert) vor, 14 Mädchen und Frauen im Alter von 4 bis 57 Jahren betäubt, sexuell missbraucht und seine Taten gefilmt zu haben. Seine eigenen Kinder hätte er als Lockvögel genutzt. Die meisten Tatorte befinden sich rund 15 Autominuten von Konstanz entfernt im Schweizer Kanton Thurgau. Einige der Opfer befinden sich bis heute in psychologischer Betreuung.

Anklägerin: „Tiefe menschliche Abgründe“

Das tatsächliche Ausmaß des Missbrauchs könnte dabei noch größer sein. „Bis heute bleibt unklar, ob der Beschuldigte weitere sexuelle Übergriffe verübt hat, die er nicht gefilmt hat“, sagte die Staatsanwältin vor Gericht.

Die Anklageschrift stützt sich fast ausschließlich auf die bei Álvaro Z. sichergestellten Handyvideos. Diese gäben „Einblick in tiefe menschliche Abgründe“, die selbst für die Staatsanwältin mit ihrer 20-jährigen Erfahrung „schwere Kost“ gewesen sei, wie sie in ihrem Plädoyer betonte. Eine zweite Staatsanwältin war nötig, um den umfangreichen Fall bewältigen zu können.

Wie aus 106 Jahren Freiheitsstrafe 15 werden

Als die Staatsanwältinnen alle Straftaten und die dafür fälligen Freiheitsstrafen zusammenrechnen, kommen sie auf unglaubliche 1272 Monate – umgerechnet 106 Jahre. Solche mehrfach lebenslangen Strafen sind aus den USA bekannt.

In der Schweiz gilt bei Kindesmissbrauch – wie in Deutschland auch – eine Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis. Mehr lassen die Gesetzgeber in beiden Ländern nicht zu. Diese höchstmögliche Strafe für Álvaro Z. beantragten vor Gericht dann auch die Staatsanwältinnen.

Zudem soll der aus Lateinamerika stammende Beschuldigte nach dem Verbüßen seiner Gefängnisstrafe für weitere 15 Jahre des Landes verwiesen werden. Dies sei „eine gerechte Strafe für ein derart übergriffiges Verhalten, das seinesgleichen sucht“, erklärte die Staatsanwältin.

Beschuldigter: „Ich war nicht ich selber, als ich das getan habe“

Álvaro Z. zeigte sich vor Gericht reuig und weitgehend geständig. Er versuchte, seine Taten mit eigenen Missbrauchserfahrungen in seiner Kindheit zu erklären: Diese Erlebnisse habe er nie verarbeitet. „Ich glaube fest daran, dass diese Taten nie passiert wären, wenn ich eine Therapie gemacht hätte.“

Und er räumte Erinnerungslücken ein, die er auf seinen regelmäßigen Konsum des synthetischen Narkosemittels Ketamin zurückführte, mit dem er seine Opfer betäubte.

Polizisten führen den Beschuldigten aus dem Gerichtsgebäude in Frauenfeld.
Polizisten führen den Beschuldigten aus dem Gerichtsgebäude in Frauenfeld. | Bild: René Laglstorfer

Die Staatsanwältin forderte das Gericht auf, sich „nicht von reuevollen Ausreden blenden“ zu lassen. Sie verwies zudem darauf, dass Ketamin auch im weltweit bekannt gewordenen Missbrauchsfall um Gisèle Pelicot zum Einsatz kam.

Kurz vor Verhaftung Schweizer Bürgerrecht beantragt

Die Verteidigerin von Álvaro Z. legte dem Gericht mehrere Unterstützungsschreiben von ehemaligen Arbeitskollegen vor, um eine Abschiebung ihres Mandanten zu verhindern. Diese wäre für ihn eine „Riesenkatastrophe“.

Álvaro Z. kam im Alter von elf Jahren in die Schweiz. Ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung hat der 39-Jährige laut eigenen Aussagen die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragt, aber nie eine Antwort erhalten.

Seit Dezember 2023 ist der Beschuldigte wieder mit einer Schweizerin verheiratet, obwohl er sich seit drei Jahren im vorzeitigen Strafvollzug befindet. Die Frage des erstaunten Richters, ob seine Ehefrau von seinen Taten wisse, bejahte Álvaro Z. „Meine Frau sieht mich nicht als Monster, sondern als Mensch.“

Die Verteidigerin beantragte vor Gericht eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren für Álvaro Z. Er sei wegen des schweren sexuellen Missbrauchs als Kind vom Opfer zum Täter geworden.

Urteil: 30 Jahre und über 170.000 Franken

Das Bezirksgericht Frauenfeld nahm Álvaro Z. die gezeigte Reue „nicht ganz“ ab. Die fünf Richter verurteilten den 39-Jährigen am 12. Dezember wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher Schändung, Körperverletzungen und Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen à 30 Franken.

Das Gericht verpflichtete den Beschuldigten außerdem zu einer ambulanten Therapie. Zudem verwies es ihn für 15 Jahre aus der Schweiz und damit auch aus dem Schengen-Raum, dem viele europäische Länder angehören, darunter auch Deutschland. Darüber hinaus muss Álvaro Z. seinen Opfern Genugtuungen von insgesamt rund 170.000 Franken zahlen.

Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt weiterhin die Unschuldsvermutung.