In einer idealen Welt lesen wir plötzlich wieder Gedichte. In einer idealen Welt erhebt statt des schlecht gelaunten Deutschlehrers plötzlich eine junge schwarze Frau ihre Stimme, um der Sprache in freien Rhythmen ihre ästhetische Kraft zurückzugeben. In einer idealen Welt spricht diese Frau zur Amtseinführung des US-Präsidenten und begeistert Millionen Menschen für Literatur. Als die damals noch 22 Jahre alte Lyrikerin Amanda Gorman Ende Januar ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vortrug, schien diese ideale Welt zum Greifen nah.
Heute warten Leser in ganz Europa auf eine Übersetzung. Sie können noch lange warten.
Die Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld gab den Auftrag wieder zurück, als Kritik an ihrer Person laut wurde. Es gehe nicht an, so hieß es, dass eine weiße Frau schwarze Literatur übersetzt. Der Katalane Victor Obiols war mit seiner Arbeit gerade erst fertig geworden, da erfuhr er: alles umsonst. Man wolle die Gedichte doch lieber von einer Frau übersetzen lassen – „jung, aktivistisch und vorzugsweise schwarz“. Katalanisch sollte sie freilich auch beherrschen.
Es ist leicht, sich über die Auswüchse einer Entwicklung zu erregen, die unter dem Namen „Identitätspolitik“ gängige Vorstellungen einer liberalen Gesellschaft untergräbt. Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht: Seit in den 60er-Jahren Studenten dem Muff unter den Talaren ihren Kampf angesagt haben, sollten genau diese Kategorien ja gerade keine Rolle mehr spielen. Im herrschaftsfreien Diskurs, so lautete die vom Philosophen Jürgen Habermas formulierte Hoffnung, würde nurmehr das Argument zählen. Wer auch immer es vorbringt.
Die Wahrheit ist, dass sich Argument von Identität nicht so leicht trennen lässt. Wenn weiße Männer öffentlich über Rassismus- oder Sexismusfragen sinnieren, ist absehbar, dass so manches gar nicht erst zur Sprache kommen wird. Da hilft es auch nicht, wenn sich die Diskutanten ungemein links geben und betonen, ja selbst in jungen Jahren für Gleichberechtigung auf die Straße gegangen zu sein.
Viele junge Menschen spüren die Heuchelei, die sich hinter diesen Segnungen des liberalen Aushandelns von Gesellschaftsfragen verbirgt. Sie erkennen, dass die von ihren Eltern stolz verteidigte Diskurskultur einem Autorennen gleicht, an dem zwar jeder teilnehmen darf. Allerdings fahren die einen Ferrari und die anderen Golf. Schon in den vermeintlich basisdemokratisch ausgetragenen Redeschlachten der 68er-Revolte behielten merkwürdig oft Männer das letzte Wort. Ja, es ist deshalb verständlich, wenn neben dem „Was“ auch das „Wer“ in unseren Debatten wieder größere Aufmerksamkeit erfahren soll.
Doch gerade weil sie die Scheinheiligkeit der Altlinken durchschauen, möchte man den Neulinken zurufen: „Hütet euch davor, in dieselbe Falle zu treten! Auch ihr seid nicht immun gegen das Virus der Selbstgerechtigkeit!“
Wer glaubt, Benachteiligungen durch eine Rückkehr zu den Talaren abschaffen zu können, wird ein böses Erwachen erleben. Dagegen hilft auch nicht, die Talare einfach auf links zu drehen, also fortan den „richtigen“ Idenitäten – Schwarzen statt Weißen, Frauen statt Männern – Vorrechte einzuräumen. Dem Gedanken, überhaupt Recht und Unrecht an Fragen von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht zu knüpfen, wohnt nämlich der Keim des Totalitarismus schon inne.
Eindrucksvoll zu besichtigen war das jüngst bei einer virtuellen SPD-Talkrunde zur Diskriminierung von schwulen, lesbischen und queeren Schauspielerinnen und Schauspielern im Kulturbetrieb. Von irgendwas überzeugt wurde dabei niemand, allenfalls abgeschreckt: Der teilnehmende Verleger Helge Malchow verglich die Gesprächsatmosphäre sogar mit stalinistischen Schauprozessen.
Es gibt gute Gründe, bei der Auftragsvergabe von Lyrik-Übersetzungen auch über Identität nachzudenken. Wenn aber gute Gründe in Ideologie umschlagen, wird Verständigung unmöglich. Auf eine junge schwarze Aktivistin und Literatin mit ausreichender Kenntnis des Katalanischen zu warten, könnte bedeuten, dass Amanda Gormans Gedichte noch lange ungelesen bleiben. Wem wäre damit geholfen?