Die Mafia übersteht politische Krisen, Verwerfungen, Strafurteile und Kriege. Sie ist der Gewinner, denn die Menschen sind feige. Wir können also beruhigt schlafen: Die Mafia ist frei.

2014 kursierte im Netz, eine von der Schweizer Polizei veröffentlichte Videoaufnahme. Darauf sah man düstere Burschen in der Gaststätte Wängli in Frauenfeld. Ein Kalabrese forderte beim Bier andere Männer auf, künftig mehr Kokain nach Deutschland und die Schweiz zu importieren.

Eine krude Versammlung, in der deutlich über Regeln und Rituale dieser kriminellen Vereinigung gesprochen wurde. Sieben Jahre später werden in Singen und Stuttgart mehrere Verdächtige der neapolitanischen „Ndrangheta“ verhaftet, einer aus einer Pizzeria in Überlingen.

Italiens oberster Antimafia-Staatsanwalt Federico Cafiero de Raho kommentierte: „Die Männer der ‚Ndrangheta haben sich in Touristenorten niedergelassen, in Überlingen und Baden-Baden. An diesen Orten haben sie wirtschaftliche Unternehmungen begründet, insbesondere Restaurants, die ‚Paganini‘ genannt wurden. Außerdem führten sie Import-Export-Aktivitäten durch und waren im Lebensmittelhandel aktiv.“ Im gleichen Jahr spricht ein Gericht in Kalabrien die Männer aus Frauenfeld frei. Es gebe zu wenig Anhaltspunkte für mafiöse Strukturen.

Das könnte Sie auch interessieren

Es gibt aber auch in Baden-Württemberg kein nachhaltiges Konzept, wie man mit dem wachsenden Einfluss der Mafia umgehen soll. Engagierte Staatsanwälte wie der Ex-Ermittler Joachim Speiermann aus Konstanz, ziehen sich resigniert zurück oder gehen in Rente. In Italien gab es Staatsanwälte, Politiker, sogar Bürgermeister, die versuchten, sich dem organisierten Verbrechen entgegenzustellen.

Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, der Bürgermeister Leoluca Orlando oder der 1982 ermordete kommunistische Abgeordnete Pio La Torre waren Helden der jüngsten Geschichte.

Roberto Saviano, seit Jahrzehnten von der Mafia gejagt, schreibt ein berührendes Buch über das Leben des Richters und Mafiajägers Falcone, seinen Tod und den seiner Frau, Dutzende Polizisten und Staatsanwälte, die die Mafia in den 80er- und 90er-Jahren ermorden ließ. Auf der letzten Seite befindet sich die einzige Fotografie.

Giovanni Falcone trägt einen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Er öffnet ein Fenster und lacht. Ein bürgerlicher Mensch mit Schnurrbart, strahlenden Augen. Er schaut in die Sonne, dem Leben entgegen. Doch Falcone ist nicht alt geworden. Wenige Tage nach seinem 53. Geburtstag, am 23. Mai 1992, wird er mit seiner Frau Francesca und drei Polizisten auf der Autobahn in Sizilien durch eine gewaltige Bombenexplosion von der Mafia ermordet.

In dem Roman finden sich viele Namen, viele Personen, zu viele Tote, das mag anfangs verwirren. Aber bedenkt man, dass es Falcone und seinem Stab zum ersten Mal gelang, in einem Maxi-Prozess 346 Mafiosi anzuklagen, die in Palermo auch zu insgesamt 2665 Jahren Haft verurteilt wurden, dass er die Paten Tommasco Buscetta und Salvatore Contorno dazu brachte, ausführlich über die Mafia zu berichten, nimmt man diese Passion gerne auf sich.

Roberto Saviano
Roberto Saviano | Bild: Gregor Fischer

Die Geschichte beginnt im Jahr 1943. In Corleone explodiert eine Bombe, die nahezu die gesamte Familie Riina auslöscht. Der Vater wollte eine aufgefundene Fliegerbombe entschärfen und verkaufen. Nur ein Sohn überlebt die Explosion: Es ist Salvatore, genannt Toto. Als habe der Himmel ihn geschont, um ihn zu einem Herrn über Leben und Tod, zum Chef der Mafia und zum Mörder an Hunderten werden zu lassen, nimmt das Drama seinen Lauf.

Der Roman erzählt eine wahre Geschichte, Saviano entwickelt aber auch Szenen, Situationen, Träume, die sich zwischen Falcone und seiner Frau, in Verhören und in der Einsamkeit der Mafia-Jäger zugetragen haben. So schildert der Autor eindrucksvoll einen Traum des Helden, ein Flug im Hubschrauber über der Gefängnisinsel Asinara, im Norden von Sardinien. Die Ermordung des elfjährigen Claudio Domino, dessen Vater sich als Gewerkschafter gegen die Mafia stellte, gehört zum Unerträglichen.

Christoph Nix war von 2006 bis 2020 Intendant des Konstanzer Stadttheaters. Er ist zudem Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Professor ...
Christoph Nix war von 2006 bis 2020 Intendant des Konstanzer Stadttheaters. Er ist zudem Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Professor für Strafrecht. | Bild: Lukas Ondreka

Es ist ein gesellschaftlicher Prozess, der aus Neid und Konkurrenzdenken, mehr als aus Nähe zur Mafia, den Staatsanwalt Giovanni Falcone und den Richter Paolo Borsellino zum Abschuss freigeben wird, weil sie ihren Einfluss korrigieren, demontieren und zurückdrängen.

Früh weiß Falcone, dass er sterben wird. Nach dem Mafiaprozess neiden ihm Kollegen den Erfolg. Sie unterstellen Eitelkeit und Karrieredenken, haben Angst vor seiner Intelligenz. Als er sich um die Position des Leiters der Anti-Mafia Abteilung in Palermo bewirbt, lassen ihn Richter-Freunde glanzlos scheitern. Falcone kommentiert es mit dem Satz: „Mit dieser Entscheidung habt ihr mich zur Zielscheibe in der Jahrmarktbude gemacht.“

Das Buch Falcone ist auch die Geschichte einer großen Liebe. Francesca ist eine Jugendrichterin mit liberalem Geist, besonnen und man muss es auch sagen, eine wunderschöne Frau. Sie bleibt bei ihm, trotz seiner Unruhe, seiner Schlampereien im Haushalt – bis in den Tod.

Saviano analysiert, wie demokratische Strukturen von Dummköpfen im Apparat ausgehöhlt werden und Falcone diskreditiert wird, weil er nicht in ihre Muster passt. Er kämpft, obwohl er im Inneren seines Herzens ein schüchterner Mensch ist, angewiesen als linker Geist, auf Freunde wie den Christdemokraten Borsellino, der wenige Woche später umgebracht werden wird. Es ist ein Buch, bei dem man weinen muss: Mut macht einsam.

Roberto Saviano: „Falcone“, Hanser Verlag: München 2024; 542 Seiten; 32 Euro.