Inzwischen soll es sich in Hollywood ja sogar bei den Vampiren nur noch um ganz smarte Typen zum Gernhaben und Verlieben handeln. Von einer solchen Rehabilitation hätten deren Vorfahren kaum zu träumen gewagt. Genau hundert Jahre ist es her, dass Friedrich Murnau mit „Nosferatu“ einen der ersten Horrorfilme überhaupt in die Kinos brachte. Geliebt wird darin allenfalls sehr einseitig: Graf Orlok, der mysteriöse Schlossherr aus Transsylvanien, findet die arme Ellen zum Reinbeißen schön.
Es lohnt sich, den Stummfilmklassiker noch einmal auf Youtube anzuschauen, auch und gerade zur Vorbereitung für einen Theaterbesuch in Konstanz. Denn dort, auf dem Münsterplatz, ist „Nosferatu“ in diesem Sommer unter freiem Himmel zu erleben: neu erzählt von Stephan Teuwissen, inszeniert von Mélanie Huber und zwar – Achtung, nichts für Nervenschwache! – als „Schauermär“ in „teilweise schrecklichen Bildern“.
Auf Youtube mutet das schaurig Schreckliche nach hundert Jahren eher niedlich an, mit monströsen Masken, übertriebenem Mienenspiel, leicht durchschaubaren Zaubertricks. Und vor dem Münster?
Schrecklich geht‘s dort auch nicht wirklich zu. Eher heimatlich. Statt im fiktiven Wisborg spielt das Stück nämlich im badisch beschaulichen Konstanz des Jahres 1922. Zwar kann man den Schlossturm linker Hand und die rechts liegende Bühne in Gestalt seines Schlagschattens nicht recht im Stadtbild verorten (Bühne: Lena Hiebel). Dafür erinnert anderes ganz unverkennbar an die Gegebenheiten vor Ort: Kommt etwa ein berühmter Wissenschaftler wie der niederländische Parapsychologe Professor van Hasselt (Ingo Biermann) zu Besuch, kriegen sich alle erst gar nicht mehr ein vor lokalpatriotischem Stolz. Wehe aber, der prominente Gast redet neuartiges, dubioses Zeug, will am Ende gar was verändern in unserer schönen Heimat! Dann wirft man ihn lieber mal gleich wieder aus der Stadt.

Seine Bücher, in denen er den Menschen Angst machen will vor Vampiren und anderen „widernatürlichen Phänomenen“, kann von Hasselt einpacken, derlei Schund kauft niemand im anständigen Südbaden. Jedenfalls nicht ohne Not.
Dieses anständige Südbaden: In Gestalt des jungen Anwalts Bert Hutter (Julian Mantaj) findet es seine Personifikation. Fleißig will er sein und bescheiden, sich bloß nicht aus der Ruhe bringen lassen! „Konstanzer Blut, bedächtiges Blut“, lautet sein Wahlspruch. Vampire? So ein bedächtiger Konstanzer Advokat kann darüber nur lachen!
Das Fremde als Problem
Doch das Problem liegt in der Fremde. Oder besser: im Fremden an sich. Unterwegs zu seinem Kunden nach Transsylvanien fängt die Irritation schon im Gasthaus an, wo Wirt und Gäste doch arg naiv vor bösen Geistern warnen. Mein Gott, die Leute sind halt ganz anders im Südosten, nicht so bedächtig wie wir, nicht so vernünftig! So arm im Materiellen, so reich seien sie an „aufdringlicher Fürsorge“, ächzt Hutter augenrollend. Da reist einer, der vor lauter Überheblichkeit im Anderen, Ungewohnten nur noch das potenziell Falsche, Gefährliche sehen kann.
Als er dann vor Graf Orlok (Luise Harder) steht, in dessen starre, glasige Augen blickt, packt ihn deshalb doch das Grauen. Sieht der Graf nicht merkwürdig weiblich aus? Und warum redet er so anders, so entrückt, so unbadisch? Was trägt er diesen grünen Kapuzenumhang, Fasnacht ist doch vorbei?
Es sind wenige Handgriffe, mit denen Teuwissen und Huber die unheimliche Begegnung der dritten Art in eine sehr irdische interkulturelle Versuchsanordnung verwandeln. Wie viel echtes Vampirblut in Graf Orlok fließt und was nur der Fantasie des verstörten Transsylvanien-Touristen entspringt – das zu deuten, bleibt dem Publikum überlassen. Selbst als der Graf tatsächlich zubeißt, möchte man nur an einen bösen Traum glauben.
So viele großartige Szenen! Die daheimgebliebene Verlobte ist bei Murnau noch eine vor Sorge um ihren in die dunkle Wildnis reisenden Mann zerfließende Seele. Wie anders dagegen Sarah Siri Lee König als Mathilda (statt Ellen wie bei Murnau): Ob Hutter geht oder bleibt, ist ihr völlig egal. Aber entscheiden soll er sich endlich!

Und als der Graf schließlich selbst nach Konstanz kommt, mit der Pest im Gepäck, da ist allen der Fall schnell klar. Tödliche Krankheit und merkwürdiger Graf aus der Ferne: Das beides auf einmal kann ja gar kein Zufall sein. Vampire gibt es also wohl doch, von Hasselt hatte Recht! Schnell muss jemand zum Professor reisen, ihn um Verzeihung bitten, wieder zurückholen, ihn alle seine Bücher verkaufen lassen! Sogar Münsterpfarrer Conrad Gröber (Odo Jergitsch) gibt den Segen dazu, und weil fortan kein Nosferatu mehr gesichtet wurde, herrschen seither in unserem Paradies am Bodensee nur noch „Anstand, Tugend und Maß“. So sieht man das.
Allein die kluge Mathilda weiß: Was ihre Nachbarn als vermeintliche Ursache allen Übels verstehen, war in Wahrheit nur ein Auge. Es erblickte und brachte ans Licht, was in dieser Stadt schon lange unter der Oberfläche gärte. Das Böse und Kranke braucht nicht erst ein Vampir aus dem Osten anzuschleppen. Es entsteht ganz von allein aus der Eitelkeit und Selbstsucht in uns: „Am Ende sind wir alle uns nur fremd und fern.“
Teuwissen beweist in seinem Stück eine bemerkenswerte Kenntnis der mentalen Abgründe dieser Stadt, erzählt die alte Geschichte mit einem Witz, der mindestens so bissfest ist wie Graf Orloks Unterkiefer. Regisseurin Huber vertraut bei der Verlebendigung dieser geradezu staunenswert gelungenen Textvorlage ganz auf ihr Ensemble. Und dieses dankt dafür mit wunderbaren Charakterbildern: von Julian Mantajs herrlich borniertem Anwalt über Sarah Siri Lee Königs als dessen feengleich über allen Abgründen schwebende Verlobte bis zu Patrick O. Becks Makler Nogg, der sich in seiner selbstverzehrenden Gier nach Ruhm und Geld fast die eigene Hand abkaut. Auch der allseits bekannte Typus der intriganten, dauerneidischen Nachbarin findet Platz: Jonas Pätzold stattet sie mit einer bestechend schlüssigen Symbiose aus Weinerlichkeit und Dreistigkeit aus.

Freilichttheater am Münsterplatz, das ist ja so eine Sache, nicht alles, was sommerlich leicht daherkommt, trägt auch über einen ganzen Abend. Schon manches Mal ist über den festen Willen zur Unterhaltsamkeit jede Bedeutung flöten gegangen. „Nosferatu“ dagegen ist rundum stimmig, lustig, fantastisch schön – und sollte es darüber hinaus tatsächlich „teilweise schrecklich“ werden, so nur im allerbesten Sinne.
Kommende Vorstellungen: 21.-26., 28.-30. Juni sowie 2.-4., 7.-13. und 16.-21. Juli sowie abschließend am 23. Juli. Weitere Informationen: http://www.theaterkonstanz.de