Macht verdirbt den Charakter, das zeigt sich nirgends so deutlich wie bei William Shakespeare. Dessen Dramen auf ihren aktuellen Gehalt hin abzuklopfen, ist vordringliche Aufgabe von Theaterregie. Sie kann sich dabei nahezu unbegrenzter Freiheiten bedienen: Im Zürcher „König Lear“ stritten zuletzt zwei Königssöhne statt -töchter ums väterliche Erbe, derweil der arme Edgar nicht nur unbehaust, sondern gar unbehost (ja, gänzlich) über die Bühne turnen musste.

Am Theater Konstanz schwingt anstelle des alten Königs nun eine Konzernlenkerin des kapitalistischen 21. Jahrhunderts das Zepter, und statt eines Landstücks winken ihren drei Söhnen Unternehmensanteile. Ehe Puristen über solch beherzte Eingriffe in Wallung geraten, sei Entwarnung gegeben: Shakespeare ist das offiziell nicht mehr, das Stück trägt den Titel „Königin Lear“, als Autor zeichnet der Belgier Tom Lanoye verantwortlich.

Shakespeares Herrscher steht auf festem Boden, in Konstanz dagegen lässt Regisseur Kristo Sagor besagte Unternehmenschefin (Katrin Huke) in den luftigen Höhen heutiger Vorstandsetagen schweben. Angelegt irgendwo zwischen Friede Springer, Susanne Klatten und Hillary Clinton, hält sie in blauem Hosenanzug auf einer frei im Raum hängenden Büroebene (Bühne: Iris Kraft) ihre Grundsatzansprache. Die Größe des Familienunternehmens, heißt es darin, berge in stürmischen Zeiten Gefahren. Deshalb ihr Entschluss: Die Firma wird vorzeitig in kleinere Einheiten zergliedert. Kinder, antreten zum Erben!

Hilfe, Mama kennt mich nicht mehr! Cornald (Miguel Jachmann) ruft in seiner Mutter (Katrin Huke) geduldig wieder die Erinnerung wach.
Hilfe, Mama kennt mich nicht mehr! Cornald (Miguel Jachmann) ruft in seiner Mutter (Katrin Huke) geduldig wieder die Erinnerung wach. | Bild: Theater Konstanz

Gregory (Thomas Fritz Jung) und Hendrick (Ioachim-Willhelm Zarculea) wissen, worauf es jetzt ankommt. Darauf nämlich, der Mutter unerschütterliche Liebe vorzusäuseln. Was im Wirtschaftsdeutsch nichts anderes bedeutet als das Versprechen, diesen Betrieb weiter im Geiste der Ahnen führen. Also im Geist der knallharten Gewinnmaximierung.

Nur der Jüngste (Miguel Jachmann) macht da nicht mit. Cornald hat in der Zwischenzeit nämlich sein politisches Gewissen entdeckt, engagiert sich jetzt für Mikrokredite. Das kann der Mama kaum gefallen, müsste sie sich doch sonst eingestehen, ihr ganzes Managerinnenleben einer falschen Sache verschrieben zu haben. Kurzerhand verstößt sie den renitenten Bengel.

Grund zum Streiten

Die anderen beiden haben derweil an ihrem satten Erbe nicht lange Freude, denn wer viel besitzt, hat auch viel Grund zu Streit. So quetscht Gregory im Affekt dem widerspenstigen Prokuristen Kent (Sebastian Haase) die Augen aus, Hendrick stößt gar seinen eigenen Bruder in den Tod. Spätestens da erinnern wir uns: Es war ja gar nicht so sehr die Macht, die den Charakter verdirbt, sondern das Geld!

Die Erkenntnis ist so richtig wie banal. Wer bei Lanoye auf tiefere Einsichten in bislang verborgen gebliebene Bezüge zu den Fragen unserer Zeit hofft, sieht sich enttäuscht.

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Immerhin, man erfreut sich an der schieren Präsenz von moralisch fragilen, abgründigen Figuren, wie sie zuletzt aus der Mode gekommen waren. Das gilt vor allem für Katrin Hukes schneidige Interpretation einer Mutter, die ihre Menschlichkeit ans unmenschliche System des Kapitalismus verkauft hat – und sich nun von ihrem jüngsten Sohn wieder an ihr verdrängtes Gewissen heranführen lassen muss. Warum sie statt Demenz vielmehr in eine Art ausgeflippte Neurose abdriftet, bleibt freilich unklar.

„Mein ganzes Leben lang musste ich mich härter geben, als ich bin“, klagt sie ihrem Pfleger Oleg (Peter Posniak). Dabei zeigt ihr jüngster Sohn: Es gibt zu diesem harten Leben durchaus Alternativen. Geld verdirbt zwar den Charakter – aber nur, wenn man sich ihm aussetzt.