Die Demokratie ist unantastbar, aber nicht unreformierbar. In der Geschichte der Bundesrepublik hat das ihr zugrunde liegende Wahlrecht immer wieder Veränderungen erfahren. Erst wurde die Fünf-Prozent-Hürde strikter definiert, dann kam das Zweistimmensystem.
Auf die Einführung der Briefwahl folgte die Absenkung des Wahlalters. Und aktuell sorgt ein Reformvorhaben der Ampel-Koalition für Zündstoff, weil bei dem geplanten Wegfall von Überhang- und Ausgleichsmandaten CSU und Linkspartei um ihren Einzug in den Bundestag fürchten müssten. Dabei gehen manche Forderungen nach einer Erneuerung der Demokratie noch viel weiter. Eine Auswahl:
Einführung des Wahlrechts für Kinder
Schließlich finden sie bislang in unserer Demokratie faktisch nicht statt. In einer Gesellschaft mit demografischer Schieflage hat das gravierende Folgen: An der Wahlurne belohnt wird nur Politik für eine ältere Generation. Prominente Köpfe wie die Ex-Familienministerin Renate Schmidt werben deshalb für ein Modell, wonach Menschen grundsätzlich wählen dürfen, sobald sie in der Lage sind, sich selbstständig ins Wahlregister eintragen zu lassen.
Mag sein, argumentieren die Befürworter, dass es den meisten Kindern an politischer Einsichtsfähigkeit und nötigem Wissen mangelt. Aber ließe sich so nicht auch eine Einschränkung für Demenzkranke, Geringgebildete oder bei ihrer Stimmabgabe Betrunkene begründen? Kritiker halten dagegen: Würde diese Reform Realität, sagen sie, dann müsste man Kindern auch das Rauchen, Trinken und Autofahren erlauben.
Einführung des Wahlrechts für Eltern
Klar, die dürfen natürlich schon längst wählen. Aber eben nur mit jeweils einer Erst- und einer Zweitstimme, wie alle anderen auch. Wer die faktische Benachteiligung der jungen Generation aufheben möchte, sagen Persönlichkeiten wie der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof, sollte ihnen deshalb für jedes Kind eine zusätzliche Stimme einräumen. Oder vielmehr: ihnen erlauben, die diesem Kind bereits von Geburt an zustehende Stimme bis zu dessen Volljährigkeit stellvertretend auszuüben.
Umstritten ist, ob eine solche Lösung verfassungsrechtlich umsetzbar wäre. Der Teufel liegt im Detail: Wer wählt im Scheidungsfall fürs Kind? Was ist, wenn ein Elternteil selbst gar nicht wählen darf? Und was, wenn das Kind mit der Stimmabgabe seiner Eltern gar nicht einverstanden ist?
Einführung des Wahlrechts für Eltern und Kinder
Diese Variante ist eine Kombination aus beiden Reformideen. Eltern dürfen demnach ab Geburt ihres Kindes in dessen Namen eine Stimme abgeben. Doch das gilt nur im Sinne einer treuhänderischen Verwaltung: Sobald das Kind willens und in der Lage ist, sich selbst im Wählerverzeichnis registrieren zu lassen, geht das Stimmrecht ganz auf das Kind über.
Die junge Generation wäre damit noch besser gestellt als im Kinderwahlrecht allein, zudem bekäme sie früher die Chance auf eigenständige Beteiligung als beim Elternwahlrecht. Wie die möglichen Vorteile, so verdoppeln sich aber natürlich auch die Kritikpunkte: Verfassungsrechtliche Fragen und Vorbehalte angesichts des Reifegrads treffen hier aufeinander.
Abschaffung des Zweistimmenprinzips
Mal ehrlich, wer blickt bei diesen riesigen Wahlzetteln wirklich durch? Aufs zweite Kreuzchen kommt es für die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag an, mit dem ersten wählt man die Person vor Ort. Damit kommen Herz und Verstand gleichermaßen zum Zug, etwa wenn der Kopf das Programm von Partei A zwar überzeugend findet, den lokalen Kandidaten von Partei B aber sympathischer.
Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass die Politik vor Ort sich nicht wirklich anstrengen muss, um in Berlin zu punkten. Denn für die Mehrheit dort entscheidet ja ohnehin die Zweitstimme. Gäbe es nur noch eine Stimme, wäre die Demokratie vor Ort gestärkt, die Parteien müssten zwangsläufig bürgernäher werden.
Losverfahren
Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Dass diese durch Wahlen zustande kommen muss, ist nicht in Stein gemeißelt. Im Gegenteil: Die alten Griechen kannten auch andere Formen von Volksherrschaft, zum Beispiel die sogenannte Demarchie. Dabei wurden die Abgeordneten, aber auch Richter und andere Amtsinhaber einfach aus dem Volk gelost.
Wo das Glück zählt statt der Wettstreit ums bessere Argument, da ist die Gefahr personeller Fehlbesetzungen natürlich groß. Andererseits aber handelt es sich um eine wahrhaftigere Herrschaft des Volkes: Nicht nur rhetorisch geschulte Spitzenjuristen entscheiden dann über unsere Lebenswirklichkeit, sondern Menschen wie du und ich, Bäckermeister, Supermarktangestellte, Postboten. Alle Bemühungen um Quotenregelungen nach Geschlecht, sozialer Klasse oder anderen Kategorien hätten sich schlagartig erledigt.
Der Gesellschaftsrat
In diesem Modell der Klimaaktivisten von der „Letzten Generation“ ist der Losgedanke fest verankert. Allerdings geht es dabei nicht um politische Konzepte im Allgemeinen, sondern um ein konkretes Ziel. Wie bekommen wir das Land bis zum Jahr 2030 emissionsfrei? Ein entsprechendes Gremium, begleitet von Wissenschaftlern, gab es bereits: den sogenannten „Bürgerrat Klima“.
In zwölf Sitzungen erarbeiteten die Teilnehmer ein Gutachten, das der Bundesregierung als Handlungsleitfaden angetragen wurde. Wie so oft bei unverbindlichen Ratschlägen blieb die Wirkung überschaubar.
Die Letzte Generation will deshalb die harte Variante: Der Gesellschaftsrat soll nicht brav empfehlen, sondern knallhart entscheiden. Eine Regierung über der Regierung, ja gar die Abschaffung der Demokratie? Ganz so wild ist die Forderung auch wieder nicht: Die Gesetzesvorhaben sollen lediglich von der Regierung „ins Parlament eingebracht“ werden und zwar mit „Überzeugungsarbeit“. Revolution sieht anders aus.