Zahlen sind ja kein Zufall. Spricht ein Politiker das Wort „Erstens“ aus, so folgt zuverlässig noch ein „Zweitens“ und ein „Drittens“ – nicht weniger, aber eben auch höchst selten mehr. Wer eine Liste mit neun Namen erstellt, ruht nicht eher, als bis er auch einen zehnten noch gefunden hat. Wer dagegen elf notiert, befindet sich schon in Fasnachtsstimmung, die 13 ist als Provokation gemeint.
Die Vorarlberger Schriftstellerin Monika Helfer hat für ihr neues Buch nun 365 Geschichten geschrieben. Und diese Zahl trägt ihre Gebrauchsanweisung bereits in sich. Das Prinzip erinnert an die Herrnhuter Losungen: für jeden Tag im Jahr eine Dosis geistige Erbauung. Tatsächlich ist die Literatur dem Religiösen ja eng verwandt, ohne Dichtkunst gäbe es keine Überlieferung, und so ganz ohne Glaubenskraft ließe sich nur schwerlich etwas dichten. Was aber lässt sich aus Geschichten in den Tag mitnehmen, die kaum länger sind als zwei Seiten?
Da ist zum Beispiel Mayas Gehaltsverhandlung, eine Premiere für die Mutter eines zweijährigen Jungen. Einfach so zum Vorgesetzten gehen und mehr Geld fordern: Auf die Idee wäre sie wohl nie gekommen, gäbe es nicht ihren Mann. Er könne sich „nur wundern“, sagt der. Seit fünf Jahren Spitzenleistungen trotz Unterbezahlung auf niedrigster Gehaltsstufe, und dann traut sie sich nicht, dieses Thema anzuschneiden!

Jetzt steht sie also im Büro des Chefs, reibt sich nervös die kalten Hände. Das Doppelte müsse sie fordern, hat ihr Mann gesagt. Doch erst hat der Chef sie mitten im Satz unterbrochen, jetzt spricht er sie auch noch mit Vornamen an. „Ein Drittel mehr“, sagt sie. Und der Chef: „Okay, gebongt!“ Ende.
Die eigentliche Geschichte geht hier natürlich überhaupt erst los. Was mag in Maya nun vorgehen? Erleichterung über den vermeintlichen Erfolg oder erkennt sie, dass weit mehr drin gewesen wäre? Wie wird sie es zuhause darstellen?
Neubeginn in New York
Zwei miteinander befreundete Witwen beschließen, ihr Leben noch einmal neu zu beginnen, fliegen nach New York, buchen ein Hotelzimmer, stürzen sich in die Bronx. Nicht als Touristen wollen sie gelten, sondern als Einheimische, ganz bewusst kleiden sie sich als Missionarinnen. „Trauern können wir auch, indem wir fröhlich sind“, gibt die eine als Motto vor: „Wir sind niemandem Rechenschaft schuldig.“
Und als sie gerade angetrunken aus einem Restaurant kommen, legt sich die andere übermütig auf die Straße. Sie wolle ausprobieren, was geschieht, ob sie überfahren oder gerettet wird, sagt sie noch. Da rauscht ein Auto heran und überfährt sie einfach. Ende.
Was war das: Selbstmord? Russisch Roulette? Trug diese Frau womöglich weit mehr Trauer, weit weniger Lebensmut in sich, als ihr Abenteuerausflug glauben machen sollte?
Fast immer hinterlassen Helfers Geschichten einen solchen Nachhall, meist erscheint er sogar länger als der geschriebene Text selbst. Seinen Resonanzraum findet er einerseits in den ganz konkreten Herausforderungen des Alltags, andererseits aber in den abstrakten Fragen des Menschseins. Aus dem Gewöhnlichen schält sich das Besondere heraus, im Banalen gibt sich das Existenzielle zu erkennen: Es geht um nichts weniger als Leben und Tod, Liebe und Verrat oder auch um das ewig vergebliche Bemühen, einander wirklich zu verstehen.
Das Lachen von nebenan
Dann wird ein herzliches, weibliches Lachen aus der Nachbarwohnung zur Bedrohung für eine in Ritualen erstarrte Ehe. Weil es die triste Ernsthaftigkeit überdeutlich spürbar werden lässt, die das eigene Leben als Paar prägt.
Bald rafft der Mann sich auf und klingelt nebenan bei der offenbar so fröhlichen Nachbarin, ein Klingeln als Hilferuf. Da zeigt sich, dass sie an Krücken geht, gerade erst genesen von einer Nierentransplantation. Er habe sie nur mal besuchen wollen, weil sie so schön lache, sagt der Mann. Von seiner Frau sei er das nicht mehr gewöhnt: „Wir haben uns nicht mehr viel zu sagen, und wir lachen nie zusammen.“
Doch manchmal genügt schon ein Bewusstsein für das Leben der anderen. Sechs Kapitel später (ja, diese Geschichte erstreckt sich mal über mehrere Tage), rafft er sich auf und küsst seine Frau – ob die nun lacht oder nicht. „Sein Atem erschreckte sie“, heißt es: „Das sind seine Brücken, dachte sie, er muss zum Zahnarzt.“ Und der Mann: „Wenn sie nur ein wenig Polsterung an ihrem mageren Körper hätte.“
So ist die Wirklichkeit. Immer wenn das Leben auf komplizierte Fragen einfache Antworten in Aussicht stellt, biegt es doch wieder in eine Sackgasse ein. Monika Helfers tägliche Losungen helfen uns zwar nicht wieder heraus – das müssen wir schon selbst regeln. Sie zeigen uns aber, wo wir dabei anfangen können.