Herr Moor, seit einigen Jahren wollen Rechtsextremisten gemäß der Devise „Schluss mit Schuldkult“ einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Nazi-Zeit. Ist Ihr Roman „Schattensee“ auch eine Reaktion auf diese Tendenz?

Absolut! Die Ermordung der europäischen Juden war nicht der einzige, aber der schlimmste Völkermord in der Geschichte der Menschheit. Wie sollen wir zukünftige Völkermorde verhindern, wenn wir uns nicht immer wieder mit den Ursachen beschäftigen? Wenn ich die AfD mit ihren unsäglichen Forderungen nach einem „Schlussstrich“ und einer „erinnerungspolitischen Wende“ höre, kommt mir das kalte Grausen.

„Jeder Mensch ist geprägt von den Handlungen und der Haltung seiner Vorfahren“, heißt es im Buch. Heißt das, wir können es in der Gegenwart nur besser machen, wenn wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen? Und gilt das auch noch für die heutige Enkel- und Urenkelgeneration?

Auf jeden Fall! Für jede Generation ist der Holocaust etwas Neues, das verstanden werden muss, jede Generation von Historikerinnen und Historiker stellt neue Fragen. Fotos oder Filme mit Leichenbergen sind für viele Jugendliche unerträglich und überfordernd. Deshalb ist es besser, sich mit Hilfe konkreter Schicksale von Opfern und Tätern mit dem unmenschlichen Charakter des NS-Regimes auseinanderzusetzen. Das Thema Fluchthilfe ist dabei sehr geeignet. Es zeigt den Schrecken des Regimes, aber auch den Mut und die Menschlichkeit der Verfolgten und ihrer Helfer.

Viele junge Menschen werden sich fragen, ob ihre Urgroßeltern in das NS-Regime verstrickt waren. In Ihrem Roman werden eine Konstanzer Unternehmerfamilie und ein emeritierter Professor mit furchtbaren Wahrheiten konfrontiert. Gab es dafür konkrete Vorbilder?

Für die Familie nicht, aber ich habe den Fall von einer Historikerin prüfen lassen. Auch die Figur des Professors ist fiktiv, aber von realen Fällen wie dem des Konstanzer Romanisten Hans Robert Jauß inspiriert. Ich will anhand dieser Figuren zeigen, wie schwer es vielen Tätern fiel, sich der Verantwortung zu stellen. Das Verhalten auch der Nachfahren ist oft immer noch von Schuldabwehr, Leugnen und Verdrängen geprägt. Der Prozess der Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Gilt das auch für die Bodenseeregion, insbesondere in Bezug auf die Arisierung von Unternehmen und die Rolle der Behörden?

Unter anderem dank der Arbeiten von Stadtarchivar Jürgen Klöckler und dem Leiter der städtischen Museen, Tobias Engelsing, wissen wir schon sehr viel über die Arisierungen in Konstanz. Eine systematische Aufarbeitung fehlt aber meines Wissens noch. Tatsächlich ist das auch sehr schwierig, da die Täter ihre Spuren vor Kriegsende höchst erfolgreich verwischt haben.

Laut Roman gab es ein sehr lebendiges jüdisches Leben am Bodensee, vor allem auf der Höri. Warum war das so?

Randegg, Gailingen und Wangen waren sogenannte Judendörfer. Bis zur rechtlichen Gleichstellung der badischen Juden 1862 durften sich jüdische Menschen nur an wenigen Orten niederlassen. In Gailingen lebten im 19. Jahrhundert phasenweise mehr Juden als Christen, das Zusammenleben war im Großen und Ganzen gut, die Christen wählten mehrmals einen jüdischen Bürgermeister.

Welche Rolle spielte in den letzten Kriegsjahren das Fluchtnetzwerk Richtung Schaffhausen?

Ab Oktober 1941, als die Deportationen in die Gettos und Vernichtungslager begannen, war deutschen Juden die Ausreise verboten. Wer sich der Verhaftung entziehen wollte, dem blieben nur der Untergrund oder die Flucht. Die neutrale Schweiz war für viele jüdische Menschen ein Ort der Hoffnung, aber Schweiz war nicht gleich Schweiz: Der Kanton Thurgau schickte aufgegriffene jüdische Flüchtlinge zurück nach Deutschland und damit in den sicheren Tod, der Kanton Schaffhausen nicht. Deshalb waren die Schaffhauser Enklaven nördlich des Rheins so wichtig, hier gab es einige Fluchtrouten.

Man musste nur über die Grenze und war gerettet?

Nein, so einfach war es leider nicht. Der Grenzverlauf ist kompliziert, ohne einheimische Helfer war eine Flucht kaum möglich. Das Netzwerk um die Berlinerin Luise Meier und den Gottmadinger Arbeiter Josef Höfler hat 28 jüdischen Menschen bei der Flucht in die Schweiz geholfen. Damit gehören sie zu den erfolgreichsten Fluchthelfern.

Warum haben sich die Deutschen lange so schwer getan, diesen Mut anzuerkennen?

Sie wollten nicht daran erinnert werden, dass man auch in einer furchtbaren Diktatur anständig bleiben kann. Höfler erhielt erst 1984 auf Betreiben der Gottmadinger SPD das Bundesverdienstkreuz. Luise Meier hat es noch nicht bekommen. Beide wurden 2001 von der israelischen Gedenkstätte in Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Es wäre höchste Zeit, stärker an diese mutigen Menschen zu erinnern. Ein Josef-Höfler-Denkmal ist überfällig, auch eine Josef-Höfler-Schule wäre toll.

Ist das Buch eine Verbeugung vor diesen Menschen?

Ja, auch. Ich wollte jüdische Männer und Frauen als mutige, findige und entschlossene Menschen darstellen, die sich der Verfolgung widersetzt haben und sich nicht zu Opfern machen ließen. Aber natürlich will ich auch an die wenigen mutigen Deutschen erinnern, die bereit waren, anderen zu helfen, obwohl das für sie lebensgefährlich war. Diese „stillen Helden“ des Widerstands sind für mich mindestens so erinnerungswürdig wie die „großen Helden“ Stauffenberg, Elser oder Geschwister Scholl: Sie haben andere gerettet, ihr Widerstand war erfolgreich!

„Nicht alle waren Mörder“, wie der Titel der Autobiografie des jüdischen Schauspielers Michael Degen lautet?

Richtig. Zur Wahrheit gehört aber auch: Das gilt für gerade mal 0,1 Prozent der Deutschen. Es gab also nur sehr wenige Mutige und Anständige, die Mehrheit hat sich in das Regime verstricken lassen. Die Wahrnehmung der heutigen Generation ist allerdings eine ganz andere. Nach einer Umfrage der „Zeit“ von 2020 glauben 29 Prozent der Deutschen, ihre Vorfahren hätten den Opfern des NS-Regimes geholfen. Entsprechend wichtig ist es, dass der Geschichtsunterricht gegensteuert: Der Uropa war höchstwahrscheinlich kein Held.