Kinderoper? Das Märchenstück „Hänsel und Gretel“ des Spätromantikers Engelbert Humperdinck mag einem da in den Sinn kommen. Inzwischen gibt es freilich längst eine Vielzahl weiterer Gattungsbeiträge. Gerade in der jüngeren Zeit sind etliche Musiktheaterwerke entstanden, die sich an Kinder und zugleich Erwachsene wenden und hierfür eine avancierte Musiksprache aufbieten, streckenweise der Unterhaltungsmusik zuzwinkern oder etwas mit dem Musical flirten. Die Themen docken auch an die unmittelbare Gegenwart an.
Das Opernhaus Zürich hat das Genre Familienoper schon mehrfach mit Beiträgen bereichert und tut dies jetzt erneut mit der Uraufführung von „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“. In Christian Schönfelders Libretto nach dem 1972 veröffentlichten gleichnamigen Kinderroman von Christine Nöstlinger erscheint der Zeitgeist auf den heutigen Stand der Dinge gebracht.
Wenn der Gurkenkönig anklopft
Wie in der Vorlage klopft die herrschsüchtig-egoistische Titelgestalt in Gurkenform bei der Familie Hogelmann an und bittet um Aufnahme. Angeblich ist der Monarch von seinen Kartoffel-Untertanen aus dem Keller vertrieben worden – was sich schließlich als falsch herausstellt.
Und eigentlich ist der Gurkenkönig ja überhaupt nur da, weil die Hogelmanns sich gerade in einer Krise befinden und ein Wesen, das einen entschiedenen Machtanspruch behauptet, die Lösung aller Probleme vorgaukelt. Der autoritäre Fiesling bringt die Familienmitglieder aber dazu, Sorgen und Nöte auszusprechen und unter Einsatz demokratischer Spielregeln wieder zusammenzufinden.

Der 1989 geborene australisch-deutsche Komponist Samuel Penderbayne fächert den Text auf in Gesprochenes, Rezitative, Arien und Ensembles und setzt metiersicher eine überaus breite Stil-Palette ein. Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass, Fagott und Klavier reagieren sensibel auf den jeweiligen Text. Glissandi, Pizzicati und Springbögen der Streicher, Cluster und harfenähnliche Klänge durch Fingerspiel über die Saiten im Innern des Flügels oder freitonales Passagenwerk beim Fagott appellieren mit einer experimentellen Klangsprache an offene, von Hörerwartungen noch nicht verklebte Kinderohren.
Ein Bühnenbild wie aus einer Traumwelt
Plötzlich lenken Walzertakte den Hörsinn in andere Gefilde, werden aus dem Sextett warm timbrierte Streichquartett-Akkorde ausgekoppelt, zieht die Kontrabassistin eine jazzig-bluesige Walking-Bass-Linie oder verfällt das Klavier in ein perkussives Ostinato. Unter dem Dirigenten Thomas Barthel horchen die Mitglieder des Hausorchesters Philharmonia Zürich die Klänge geduldig aus, verleihen den Melodielinien gestische Konturen und spielen, wo geboten, mit rhythmischem Pep.
Regisseurin Claudia Blersch ist auf der Studiobühne des Opernhauses eine fantasiereiche, sinnlich anspringende Inszenierung gelungen. Das Bühnenbild von Giulio Bernardi zeigt einen traumweltlich überdimensionierten Teller mit Luken. Auf diesen zieht die Familie riesige Salatblätter.

Etwas später fallen monströse Tomatenscheiben vom Theaterhimmel herab. Die Figuren, die von Kostümbildnerin Selina Tholl mit liebevollem Humor typisiert worden sind, kauen lustlos an den labbrigen Blättern und laden die Atmosphäre auf mit ersten Gereiztheiten.
Die Ankunft des Gurkenkönigs, den Martin Zysset mit wunderbar knorriger Skurrilität spielt und singt, lässt die Frontlinien noch deutlicher erkennen. Der in einen karierten Anzug gesteckte Papa (pointensicher: Philipp Mayer) hofiert den Kronenträger und erhofft sich durch ihn einen Zuwachs an Autorität. Die Mama (eine überzeugend resolute Liliana Nikiteanu mit Stromschlagfrisur) lässt ihren Widerwillen gegen den Eindringling spüren und erinnert kurz vor dem Synkopen-gesättigten Finale in romantischem Popballaden-Ton und im Glitzerkleid an die unbeschwerten Tage mit ihrem Angetrauten.
Die Tochter Martina (passend impulsiv: Indyana Schneider) pubertiert nach Kräften und spannt zusammen mit dem etwas jüngeren Wolfi (sympathisch menschelnd: Christian Sturm), der bangen muss, in der Schule sitzenzubleiben. Nick (glaubhaft in ihrer Hosenrolle: Sylwia Salamonska) schlägt sich zunächst als Jüngster unhinterfragt auf die Seite von Papa.
Bravourös agiert Valeriy Murga in der Rolle des vitalen Opas. Einen farbigen Akzent setzt der musikalisch von Janko Kastelic einstudierte Kinderchor, der die Kartoffel-Untertanen verkörpert – die eigentlich süße Wesen sind.
Allzu optimistisch erscheint für dieses gut einstündige Musiktheater der Hinweis „für Kinder ab 7 Jahren“. Und das nicht bloß wegen eines Ausdrucks wie Pluralis majestatis, dem Plural der Majestät, sondern weil das Stück weitergehende Ansprüche stellt, die für junge Gäste doch schwer zu knacken sind.
Weitere Aufführungen der Kinderoper „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ gibt es am 21., 22., 25., 28. und 29. September sowie am 2. Oktober 2024 am Opernhaus Zürich. Dirigat und Besetzung können sich je nach Datum ändern.