Briefe sind zum Öffnen da, und läuft im Leben alles nach Plan, macht dieser Vorgang so viel Spaß wie Geburtstagsgeschenke auspacken. Leider jedoch läuft nicht immer alles nach Plan. Zeichnet sich ab, dass statt der Liebesbriefe vermehrt Post von Anwälten und Inkasso-Unternehmen im Briefkasten liegt, entschwindet der Gedanke an Geburtstage in weite Ferne.

Charly Benz zum Beispiel, Marketing-Fachfrau in Berlin, reicht alles ungelesen an Herrn Schabowski weiter. Der gute Mann hat aus der Angst vor Briefen ein Geschäftsmodell entwickelt: Für einen Basis-Tarif übernimmt er das Öffnen und Bearbeiten sämtlicher Zuschriften. Wer mehr zahlt, erhält dazu eine persönliche Beratung. Und fürs Premium-Abo übernimmt Herr Schabowski sogar die sich aus dem Postverkehr ergebenden Behördengänge. Was genau aber ist bei Charly Benz nicht nach Plan gelaufen?

Die Vorarlberger Autorin Verena Roßbacher zeigt uns in ihrem neuen Roman „Mon Chérie und unsere demolierten Seelen“ eine Antiheldin, die so gar nicht dem typischen Bild einer gescheiterten Existenz entspricht. Nichts deutet darauf hin, dass der Anwaltsbrief als Vorbote einer Anklage zu verstehen wäre. Die Stromrechnungen kann sie problemlos begleichen. Und ihre Arbeit für ein auf vegane Produkte spezialisiertes Ernährungsunternehmen ist offenkundig geschätzt.

Wenn Charly Benz gescheitert ist, dann muss es sich also um eine Luxusversion des Scheiterns handeln. Die passende Entsprechung zu Herrn Schabowskis Premium-Tarif.

Verena Roßbacher. Bild: Sylvia Floetemeyer
Verena Roßbacher. Bild: Sylvia Floetemeyer | Bild: Sylvia Floetemeyer

Es liegt in dem Gefühl, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein. Eigentlich nichts auf die Reihe bekommen zu haben und am Ende mehr zufällig in ein sicheres Beschäftigungsverhältnis gerutscht zu sein. Im Germanistik-Studium: nichts verstanden. Philosophie: „Ich hätte ums Verrecken nicht sagen können, was dieser Ockham eigentlich wollte und was ich von ihm wollen sollte.“ Theologie: Puh. So sieht es aus, wenn alles Denken von frühester Jugend an stets nur um ein einziges Thema kreiste: Wie schaffe ich es, dass der coolste Junge an der Schule mich begehrt?

Überfluss der Möglichkeiten

Das Leiden einer wohlstandsverwöhnten Generation am Überfluss ihrer Möglichkeiten hat in den zurückliegenden Jahrzehnten schon so manchen Autor umgetrieben. Die Popliteratur ist voll von Großstadtsingles im seelischen Krisenmodus, und oft genug kennzeichnet diese Charaktere eine ebenso ausgeprägte wie nervtötende Larmoyanz.

Davon kann bei Roßbacher keine Rede sein. Ihre Protagonistin flüchtet sich nämlich hinter den Schutzschild

der Selbstironie, lädt ihren Leser ein, sich mit ihr gemeinsam lustig zu machen über vergebliche Versuche, mit Kussmund auf der digitalen Dating-Plattform endlich den Märchenprinz anzulocken oder ihrer Schwester das lästige Geburtstagsgeschenk auszureden: einen Kurs beim Therapeuten, Familienaufstellung für Anfänger.

Verena Roßbachers Roman „Mon Chérie und unsere demolierten Seelen“ (512 Seiten, 24 Euro) ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch ...
Verena Roßbachers Roman „Mon Chérie und unsere demolierten Seelen“ (512 Seiten, 24 Euro) ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. | Bild: Kiepenheuer & Witsch

Das hat Sprachwitz nach bester österreichischer Tradition und führt zu manch

reizvoll überraschender Wendung. Etwa wenn sich herausstellt: Auch Herr Schabowski hat so seine Ängste, selbst er schiebt etwas immer weiter vor sich her. Und zwar seinen längst überfälligen Arztbesuch. So wird der Leser Zeuge einer Vereinbarung: Charly soll sich auf das Psychoseminar einlassen, ihr zum väterlichen Freund gewordener Berater geht dafür endlich zum Doktor. Es dauert nicht lange, da zeitigt dieser Vertrag bemerkenswerte Folgen.

Das alles ist so nah an der Mündlichkeit, dass es sich runter liest wie nichts. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass bei der architektonischen Ausgestaltung dieses Plots mancher Balken allzu bemüht in die Konstruktion gezimmert wird. Da liegt die tödliche Krankheit sehr dicht an einer unverhofften Schwangerschaft, und die Einsamkeit des Großstadtsingles schlägt mit seltsamer Leichtigkeit in einen Harem um.

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In ihrem selbstkritischen Witz erscheint die Figur der Charly Benz fast zu sympathisch, ihre Ironie wirkt ebenso mut- wie schmerzlos. Vielleicht ist gerade das ja charakteristisch für diese Generation der Luxusscheiternden. So oft, wie Roßbacher ihre Antiheldin „Jesus!“ ausrufen lässt, kann man aus ihrer Geschichte sogar eine Sehnsucht nach Erlösung herauslesen. Und aus dem skurrilen Ende mit etwas gutem Willen eine Weihnachtsallegorie.

Im wirklichen Leben kommt eine solche Erlösung aus dem Überfluss der Möglichkeiten eher auf die harte Tour, durch die Rückkehr von Not und Elend. Bleibt zu hoffen, dass Roßbachers Roman zumindest in dieser Hinsicht realistischer ist, als es scheint.