Taras Schewtschenko? Nie gehört! Genau darin liegt das Problem. Wenn Kulturveranstalter in ihrer Sorge vor Ausgrenzung russischer Künstler mahnen, es müsse „um Puschkin statt um Putin“ gehen, verkennen sie, wie viel Ausgrenzung schon allein in dieser Formel steckt.

Dass Puschkin, Tolstoi oder Dostojewski nämlich als Fixsterne osteuropäischer Kunst Bewunderung erfahren, während in Belarus, Ukraine und Georgien Jahrhunderte lang nur Barbaren hausten: Diese Mär verdankt sich einem Kulturkolonialismus, der in einer von Oligarchen beeinflussten Programmgestaltung der Salzburger Festspiele noch heute wirksam ist.

Es ist eben kein Zufall, wenn der Name des ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko (1814-1861) in Deutschland völlig unbekannt ist. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass große Dichternamen anderer osteuropäischer Nationen in unseren Bücherregalen fehlen.

Wer könnte schon spontan einen bedeutenden Autor polnischer Herkunft nennen? Einen Puschkin mit rumänischem Pass? Einen Tolstoi aus Bulgarien? Wie leicht fällt uns das bei Franzosen, Spaniern, Engländern, Skandinaviern, Italienern!

Taras Schewtschenko in einer Aufnahme aus dem Jahr 1858.
Taras Schewtschenko in einer Aufnahme aus dem Jahr 1858. | Bild: Wikipedia

Auf der Suche nach den Ursachen lohnt sich ein Blick in die deutschsprachige Literatur, die auf ukrainischem Boden entstanden ist. Aus jener Zeit also, als Lwiw noch Lemberg hieß und das westukrainische Galizien wie auch die Bukowina zum Habsburgerreich gehörten.

In den Jahren nach der Annexion von 1772 war das österreichische Publikum begierig danach, mehr zu erfahren über diese mysteriöse Region, deren sich sein Kaiser bemächtigt hatte. Reiseschriftsteller wussten diese Begierde zu befriedigen.

Es handelte sich bei ihnen meist um literarisch mäßig begabte Offiziere, Kaufleute oder Gelehrte von der neu gegründeten Universität Lemberg, die ihre Wiener Leserschaft in der Annahme bestärkten, im besseren Teil dieser Welt zu leben.

Franz Kratter berichtet aus Galizien

Autoren wie Franz Kratter (1758-1830) berichteten von der ethnisch vielfältigen Landbevölkerung (in Galizien sprach man Polnisch, Ruthenisch, Jiddisch und Hebräisch) als einem kulturlosen Gemisch, das von den zivilisierten Heilsbringern aus Zentraleuropa nur profitieren könne.

Im Mitte der 1990er-Jahre erschienenen Band „Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau“ (Siedler Verlag) zeichnet die Krakauer Germanistin Maria Klanska eindrucksvoll nach, wie dieser fremde Blick kommende Dichter prägen sollte: und zwar selbst jene, die selbst aus den so verächtlich beschriebenen Verhältnissen stammten.

Karl Emil Franzos (1848-1904) – Literaturkennern bekannt als Entdecker der Werke von Georg Büchner – zählt zu der großen Gruppe jüdischer Autoren, die in deutscher Kultur eine Verheißung sahen. Ihre Familien waren einst aus Zentraleuropa vertrieben worden. Nun verkündeten ihnen Lessing, Schiller, Goethe den Aufbruch in eine humanistische Zukunft, getragen von Toleranz und Verständigung statt Ressentiments.

Karl Emil Franzos in einer Fotografie aus dem Jahr 1891.
Karl Emil Franzos in einer Fotografie aus dem Jahr 1891. | Bild: Wikipedia

Im Vergleich zu den klangvollen Metropolen der Aufklärung – Königsberg, Weimar, Wien – kam ihnen das zur Heimat bestimmte Galizien eng und provinziell vor. „Halb-Asien“ hieß es bei Franzos abschätzig. Anzutreffen seien dort „asiatische Barbarei“ und „asiatische Indolenz“.

Thaddäus Rittner (1873-1921), Leon Rosenzweig (1840-1914), Efraim Frisch (1873-1942): Eine ganze jüdische Dichtergeneration glaubte fest an die aufklärerische Kraft deutschsprachiger Kultur. Und wertete damit die Identität ihrer als chaotisch, unzivilisiert, „asiatisch“ empfundenen Herkunftsgesellschaft ab.

Hermann Sternbachs Ideal von den humanen Deutschen

Welchem Irrtum sie dabei erlegen waren, sollten viele bitter erfahren müssen. Hermann Sternbach (1889-1942) hatte noch 1917 in einem Skizzenbuch mit dem Titel „Wenn die Schakale feiern“ das Bild von barbarischen Ukrainern gemalt, die sich am Unglück ihrer jüdischen Mitbürger weiden – den humanen Deutschen war die Rolle des leuchtendes Gegenbeispiels zugedacht. Als 1941 die tatsächlich ganz und gar nicht humanen deutschen Truppen in Galizien einmarschieren und Sternbach in ein Ghetto internieren, nahm er sich wenig später das Leben.

Andere jüdische Intellektuelle wie die Lyriker Alfred Kittner (1906-1991) und Rose Ausländer (1901-1988) überlebten den Holocaust, dichteten sogar nach dem Krieg trotz allen Schreckens in deutscher Sprache weiter. Einzig Paul Celan (1920-1970) haderte mit der deutschen „Muttersprache-Mördersprache“, seine berühmte „Todesfuge“ erschien zunächst auf Rumänisch.

Paul Celan haderte mit der deutschen Muttersprache.
Paul Celan haderte mit der deutschen Muttersprache. | Bild: Willi Antonowitz

Die in der galizischen Literatur so verbreitete wie fatale Idealisierung des Westens überstrahlte lange jede wertschätzende Annäherung an die Lebenswirklichkeit der multiethnischen Bevölkerung.

Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895) etwa – seinen Schilderungen erotischer Machtverhältnisse verdankt sich der Begriff „Masochismus“ – würdigte Galizien als „Landschaft der Seele“. Die sozialen und ethnischen Konflikte ließ er in seinen Erzählungen zwar nicht aus. Doch vergaß er darüber nie, positive Eigenschaften zu erwähnen, etwa die im Zusammenleben erlernte Fähigkeit, solche Konflikte wieder zu befrieden.

Joseph Roth mit „Hiob“: Ein Roman mit neuem Blick auf die Frömmigkeit

Joseph Roth (1894-1939) unterschied in seinem Roman „Hiob“ gar nicht erst zwischen dem österreichischen Galizien und dem russischen Wolhynien. Und im Unterschied zu so vielen seiner Kollegen sah er in der verbreiteten Frömmigkeit auch weit mehr als nur einen Ausdruck von Provinzialität.

Als sein schwer geprüfter Titelheld nach Amerika auswandert, erweist sich das gelobte Land der Freiheit und des Fortschritts als technisiert und sinnentleert. Rettung bietet ihm allein sein vermeintlich hinterwäldlerisches Gottvertrauen.

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Doch diese Beispiele kommen nicht an gegen ein von politischen und ökonomischen Interessen beeinflusstes Kulturverständnis. Als Handelspartner ist Russland schon immer weit bedeutender gewesen als die von Landwirtschaft geprägte Ukraine. Da hat man die Legenden von einer kulturlosen Wildnis am Dnjepr, die erst aus Wien und Moskau mit dem Licht der Erkenntnis beglückt werden muss, nur zu gerne geglaubt.

Taras Schewtschenkos Literatur ist bis heute nicht in deutscher Übersetzung erhältlich. Und das obwohl große russische Komponisten wie Peter Tschaikowski, Nikolai Rimski-Korsakow und Sergei Rachmaninow von ihr derart überzeugt waren, dass sie fast 1500 seiner Werke musikalisch interpretierten.

Woran liegt‘s? Ein 1847 verfasstes Schreiben der russischen Geheimpolizei an Kaiser Nikolaus I. gibt Aufschluss. Mit der Verbreitung von Schewtschenkos Gedichten, heißt es darin, „könnten Ideen über die Möglichkeit des Bestehens der Ukraine als eines selbstständigen Staates Wurzeln schlagen“.