Liebe ist uncool geworden. Als luftige Idee hat sie noch immer Konjunktur, gepriesen in sentimentalen Twitterbeiträgen und Sonntagsreden. Doch sobald es ernst wird mit diesem irrationalen Gewirr aus Hoffnungen und Abhängigkeiten, vertreibt kühles Bescheidwissertum jeden Anflug von Gefühl: Mach dich bloß nicht abhängig! Lass dich ja nicht ausnutzen! Besser mit Ehevertrag!

Der Journalist und Kunsthistoriker Florian Illies zieht in seinem aktuellen Buch eine Parallele zum Ende der Weimarer Republik. Auch damals, schreibt er, habe es einen „unglaublichen Kult um das Kühle“ gegeben. Man wollte „den anderen, wenn ihm die Tränen kommen, immerzu glauben machen, das Herz sei nur ein Muskel“. Können Leo Tolstois mit heißen Herzen Liebende uns in der heutigen Renaissance des Kühlen vor falschen Schlüssen bewahren?

Am Theater Konstanz unternimmt Regisseurin Mona Kraushaar jedenfalls den Versuch. „Anna Karenina“ ist ein Wälzer von tausend Seiten, doch es gibt eine raffiniert konzipierte Bühnenfassung von Armin Petras. Sie verfolgt gar nicht erst den Anspruch, die Opulenz des Romans abzubilden, skelettiert stattdessen das Werk auf seine zentralen Figurenpaare: drei Versionen von Liebe, eine Versuchsanordnung.

Vorne bilden türkise Tapetenwände den Rahmen für trautes Eheglück, hinten verspricht eine einsame Wendeltreppe den direkten Weg zum siebten Himmel (Bühne: Katrin Kersten).

Eine Wendeltreppe führt in den siebten Himmel. Doch wer kommt dort oben schon an?
Eine Wendeltreppe führt in den siebten Himmel. Doch wer kommt dort oben schon an? | Bild: Bjørn Jansen

Doch, wer liebt, betritt dünnes Eis. Lewin (Ioachim-Willhelm Zarculea) hat sich deshalb schon mal die Kufen unter die Füße geschnallt, beim Schlittschuhlaufen will er die blutjunge Kitty (Paline Werner) für sich gewinnen. Dabei weiß er nur zu gut, das Unterfangen ist aussichtslos. Zu alt ist er, zu tölpelhaft: einer jener ewigen Junggesellen, die Frauen zwar ganz prächtig lieben können, aber nur als Freund.

So kommt es auch vorerst. Kitty schwärmt für Popstars wie den feschen Rittmeister Wronski, widmet ihnen sogar eigens komponierte Songs und ist beleidigt, wenn diese anderen nicht gefallen. Für nette Typen ohne Strahlkraft wie Lewin dagegen hat sie nur „Mitleid“ übrig. „Nur“ oder aber immerhin: Erweist sich die schlechteste aller möglichen Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft am Ende etwa doch noch als beste?

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Liebesversion Nummer zwei: In der Ehe von Kittys Schwester Dascha (Tülin Pektas) nämlich ist der Lack schon lange abgeblättert. Am Schaukelpferdchen klagt sie über den Lauf der Dinge: so viele Kinder, so viele Falten, was gäbe sie drum, hätte der ihrer Liebe überdrüssig gewordene Stepan (Thomas Fritz Jung) wenigstens noch Mitleid mit ihr!

Und dann ist da noch – Liebe Nummer drei – das Traumpaar, frisch füreinander entflammt, jeder Blick ein Funkenstrahl, jedes Wort voller Magie. Diese Liebe sei ein Geschenk, raunt Wronski (Sven Dolinski) der schönen Anna (Kristina Lotta Kahlert) zu. „Jemand hat es sich für uns ausgedacht, wir müssen es nur noch auspacken.“ Der informierte Tolstoi-Leser weiß: In diesem Geschenk wohnt der Tod. Denn Anna ist verheiratete Mutter eines Sohnes. Die Affäre wird in einen Skandal münden, später in ihren Selbstmord.

Liebe ist ein Geschenk, man muss es nur noch auspacken: Wronski (Sven Dolinski) macht sich an die Arbeit.
Liebe ist ein Geschenk, man muss es nur noch auspacken: Wronski (Sven Dolinski) macht sich an die Arbeit. | Bild: Bjørn Jansen

Doch vorerst schärfen die widrigen Umstände nur umso mehr die Sinne der Verliebten. Annas biederer Ehemann Alexander (Ingo Biermann) zum Beispiel: Ist es wirklich Liebe, die ihn an sie bindet? „Wenn er nicht gelesen hätte, was Liebe sein soll“, lautet die ernüchternde Einsicht, „dann würde er dieses Wort nicht gebrauchen.“ Und Graf Wronski grübelt mit bemerkenswerter Aufrichtigkeit über seine eigenen Begierden. Womöglich sei er ja nur neidisch auf das, was anderen peinlich sei. Nämlich ein geordnetes Eheleben, eine heile Familie!

Die Leistung der Regie in dieser dreifachen Beziehungsstudie liegt nun nicht in bemühter Metaphorik und knalligen Aussagen, sondern in der Entwicklung von Charakteren. Gerade weil Liebe sich jeder Betriebsanleitung entzieht, bedarf es Menschen statt Figuren, um von ihr zu erzählen. In Konstanz bekommen wir diese Menschen zu sehen.

Liebt ihr Mann sie überhaupt? Anna Karenina (Kristina Lotta Kahlert) hegt starke Zweifel.
Liebt ihr Mann sie überhaupt? Anna Karenina (Kristina Lotta Kahlert) hegt starke Zweifel. | Bild: Bjørn Jansen

Ioachim-Willhelm Zarculea gibt mit liebenswert nervöser Unsicherheit einen von Torschlusspanik getriebenen Junggesellen, der sich wie ein Ertrinkender an seine Angebetete klammert. Pauline Werner verleiht der naiven Schwärmerin Kitty mit großen Augen und zickigem Gehabe auf ganz wunderbare Weise Witz und Ironie. Schön auch Ingo Biermann als gehörnter Ehemann, der einfach nicht versteht, was genau seiner untreuen Frau an ihm fehlt, und wie es ihm gelingen könnte, in ihre seltsame Welt der großen Gefühle überzulaufen.

Auch das nur vermeintliche Traumpaar gefällt. Sven Dolinski zeigt einen Wronski, der erst nach Sinn und Tiefe dürstet, sich dann aber umso leichter von der sich einstellenden Routine nerven lässt. Und Kristina Lotta Kahlert legt in Annas rasend unbegründeter Eifersucht auf den Geliebten ein Kernproblem dieser Figur frei: Selbst der Ehe entflohen, muss sie die Möglichkeit der Untreue fast zwangsläufig auch bei ihrem Partner einkalkulieren.

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Am Ende, als die erste Liebe mühsam erkämpft ist, die zweite weitgehend zerstört und die dritte in einer Katastrophe endet, bleibt die Frage offen: Liebe, was ist das? Brauchen wir das? Oder wäre es auf die kühle Tour nicht besser?

„Liebe ist…, Liebe ist…“, stammelt Anna Karenina und will die Fortsetzung des Satzes einfach nicht finden. Nur eine Gewissheit fällt ihr ein: „Wenn die Liebe aufhört, beginnt der Hass.“

Mag sein, dass Tolstois Liebenden viel Unglück widerfährt. Mag sein, dass die große Liebe nur in Hollywood zu finden ist. Doch wer sie gar nicht erst sucht, öffnet der Barbarei alle Schleusen. Die Wahrheit ist: Der Mensch ist zur Liebe verdammt.

Kommende Vorstellungen: von 2. bis 6. November täglich. Weitere Informationen: http://www.theaterkonstanz.de