Herr Antes, die Infektionszahlen steigen wieder. Für wie dramatisch halten Sie die Lage?
Ich halte die Lage schon für ernst, nicht nur wegen der Zahlen, sondern auch wegen des dilettantischen Umgangs damit. Was letzte Nacht passiert ist, ist eine spekulationsbasierte Diskussion.
Inwiefern halten Sie den Umgang mit den Zahlen für dilettantisch?
Mittelwerte haben eine extrem unangenehme Eigenschaft: Sie vertuschen Unterschiede. Ganz bildlich gesprochen: Der Mittelwert von Würfelergebnissen ist eine Kommazahl. Die gibt es auf dem Würfel aber gar nicht. Bei Altersgruppen und Mortalitäten muss ich auf die Details dieser Gruppen blicken. Das wird jedoch gar nicht gemacht.
Was bringt der Mittelwert der Inzidenz dann überhaupt noch?
Die Inzidenz ist der gröbste Indikator, den ich für eine Beschreibung nutzen kann. Dadurch entstehen nicht wieder gutzumachende Fehler. Das versuche ich schon meinen Studenten beizubringen. Die Regierung führt diesen Fehler geradezu schulbuchartig vor. Wir haben eine massive Abnahme der Mortalität in den vergangenen Wochen. Der Grund ist sicher der Impferfolg bei den Alten. Wir haben gleichzeitig eine Zunahme der Infektionen. Das nur über einen Inzidenzwert zu steuern, verdeckt, wie ich gezielt vorgehen sollte.
Was halten Sie von Schnelltests, um Infektionen schneller zu erkennen und einzudämmen? Zuverlässig sind sie ja nicht unbedingt.
Durch die Schnelltests ist eine völlig unübersichtliche Lage bezüglich der Meldungen entstanden.
Wieso? In die Statistiken gehen doch nur PCR-Test-bestätigte Infektionen ein.
Es geht darum, dass wir bislang vor allem anlassbezogene Tests hatten. Jetzt haben wir eine Art Screeningcharakter. Man versucht, Infizierte herauszufischen und damit das Infektionsgeschehen herunterzubringen. Die große Herausforderung ist jetzt die Verteilung der Schnelltests zwischen professioneller Anwendung und privater Anwendung.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen insgesamt?
Die Nutzen-Schaden-Abwägung wurde im vergangenen Sommer intensiv geführt. Jetzt nicht mehr. Stattdessen starren wir auf Inzidenzwerte, nicht von Infektionen, sondern von positiven Tests, die gegenwärtig durch die Zunahme der Schnelltests an Aussagekraft verlieren. Das ist zu wenig.
Weiß man inzwischen, welche Maßnahmen wirksam sind?
Nein, auch wenn wir laufend mit Aussagen überschwemmt werden, warum Maßnahmen durchgeführt werden: Uns fehlen die relevanten Daten. Wir müssen die Dateninfrastruktur massiv verbessern. Da haben wir desaströse Mängel. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Ein Problem ist da auch der Datenschutz, der mehr Schaden als Nutzen bringt. Wir bräuchten ein datenbasiertes Sensorensystem, das uns hilft, die Lage besser zu verstehen: ein Frühwarnsystem, kein Computermodell, sondern ein Echtzeitmodell, gefüttert mir tatsächlichen Daten.
Aber teilweise gibt es schon genaue Prognosen, zum Beispiel mit Blick auf die Mutationen. Dass ihr Anteil stetig wächst, wird zum Beispiel in Österreich ziemlich genau prognostiziert, auch in der Schweiz.
Es reicht nicht, vorherzusagen, dass es stetig wächst, das ist vorhersehbar. Stattdessen stehen Behauptungen im Raum. Die Kanzlerin sagt: Wir haben eine neue Pandemie, das neue Virus ist ansteckender und die Mortalität ist höher. Aber wie hoch, wie ansteckend? Die quantitativen Angaben fehlen. Es fehlt an Daten zu Infektionen im privaten Bereich, in Schulen, in der Wirtschaft. Die statistischen Zahlen werde nicht erfasst, wo sie erfasst werden, werden sie nicht ausgewertet. Dabei könnten Berufe wie Lehrer, Busfahrer oder Supermarktkassierer deutliche Hinweise liefern, wie viele Infektionen wo entstehen.
Am Gründonnerstag sollen die Supermärkte geschlossen bleiben. Was halten Sie davon?
Ich vermisse, wie wir im vergangenen März an vielen Stellen richtig agiert haben: Einlasskontrollen an den Supermärkten, Desinfektionen von Körben und Wagen, das sehe ich gegenwärtig fast nirgendwo. Ich sage seit einem Jahr, Schutz entsteht durch die Summe der kleinen Schräubchen. An denen wird gegenwärtig zu wenig gedreht.

Was halten Sie in dem Fall von der neuen Maskenpflicht im Auto, wenn mehrere zusammen fahren?
Das macht absolut Sinn. Es ist ein enger Raum, bei jetzigen Temperaturen macht keiner ein Fenster auf. Ich persönlich vermeide, mit mehreren im Auto zu fahren. Wir fahren im Konvoi zum Wanderausflug. Das Problem ist die Kontrolle und Durchsetzung. Das geht wohl nur mit einem hohen Maß an Freiwilligkeit. Ich bin skeptisch, ob das funktioniert. Vermutlich nicht, als Folge der mangelhaften Vorbereitung durch eine professionelle Kommunikation mit der Bevölkerung.
Sind die Maßnahmen an Ostern sinnvoll – mit Ruhetagen?
Ruhetage an Ostern? Da wollen viele ihre Familien sehen. Gerade Ostern möchten viele zum Gottesdienst gehen. Das ist das größte christliche Fest. Was bewirken diese zwei bis drei Tage Extraruhe gegen das Infektionsgeschehen? Diese Maßnahme fällt für mich in die Kategorie „Logik, Nein danke.“ Was ich andererseits vermisse, ist Empathie gegenüber der Bevölkerung.
Aber hilft Empathie, das Infektionsgeschehen einzudämmen?
Nein, aber sie ist notwendig, damit kleinen Verhaltensregeln freiwillig befolgt werden. Wenn sich sieben Leute mit Abstand treffen, ist das besser als fünf, die keinen halten. Es werden zu viele grundsätzliche Maßnahmen vernachlässigt. So wird das Abstandhalten auf der Straße und im Supermarkt oft nicht eingehalten. Dann wundert man sich, wenn die Zahlen steigen.
Wie bewerten Sie die Situation an den Schulen? Sollen Schüler zu Hause bleiben oder nicht?
Da kann man nur das Chaos konstatieren. Es beginnt bei der Interpretation der Studienlage und endet bei den Versäumnissen wie nicht eingebaute Filteranlagen und anderen baulichen Maßnahmen: Vergleiche mit anderen Ländern unter völlig anderen Voraussetzungen bringen uns nicht weiter. In Österreich sind die Schulen mit intensiven Tests geöffnet, in der Schweiz sind sie ohne Tests geöffnet. Die Maßnahmen werden immer noch sehr stark daran orientiert, wie wichtig Präsenzunterricht ist. Das ist dann aber nicht nur eine wissenschaftliche Entscheidung, sondern eine politische.

Und wie stehen Sie dazu?
Ich bin der Meinung, dass wir unter sorgfältiger Kontrolle überall an die Grenze des Normalen gehen müssen. Deshalb ist der Lockdown so zweifelhaft: Wir haben keine Belege dafür, dass er die Wirkung hat, die wir ihm zuschreiben.
Das Gegenteil wird ja derzeit in Tübingen ausprobiert. Was halten Sie davon?
Davon halte ich sehr viel. Aber es geht hier um Ausprobieren. Man muss forschend begleiten und verfolgen, was da passiert. Es ist ein Schritt weg von den Spekulationen hin zu Daten und Fakten. Der Versuch ist genau das, was ich schon lange vorgeschlagen habe: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Das praktiziert Tübingen gerade.
Im Rest der Bundesrepublik gelten stattdessen weiter Einschränkungen. Die Wirksamkeit mancher Maßnahme scheint fraglich: Urlaub im Schwarzwald ist verboten, nach Mallorca fliegen aber nicht. Was soll das bringen?
Das ist die Abschaffung von Logik. Mir kommt das vor wie Pandemie-Bingo und Malle hat den Hauptgewinn gezogen. Das Infektionsgeschehen ist ein undurchdringbarer Dschungel von Wahrscheinlichkeiten, wo wir heute nicht genau wissen, wo in welchem Maße es geschieht. Deswegen muss man die Wahrscheinlichkeiten für einen typischen Verlauf aufaddieren und dann sieht Mallorca mit einem Flug und Anstehen am Gate, vor dem Bustransfer und am Hotelbuffet vermutlich nicht so gut aus als wenn ich mit meinem Privatauto in eine Ferienwohnung in der Lüneburger Heide fahre.
Die Deutschen lieben Campingplätze. Spricht da was dagegen?
Man muss das immer relativ sehen. Am Campingplatz gibt es gemeinschaftliche Sanitärräume und Abwaschstationen. Das ist ein Risiko. Die Campingplätze zu öffnen, ginge also nur mit strengen Vorgaben. Abstand muss nicht nur Vorgabe sein, sondern auch umgesetzt werden. Denn der ist der einzig belegbare Schutz.