Es ist gerade mal ein gutes Jahr her, als sich Robert Habeck und Annalena Baerbock auf einem Bundesparteitag kurz vor der Bundestagswahl feiern ließen. Hochgereckte Arme, ausgelassene Jubelgesten – ein wenig albern wirken die Fotos im Rückblick.

Gerade mal ein gutes Jahr her: Robert Habeck und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beim Parteitag kurz vor Bundestagswahl 2021.
Gerade mal ein gutes Jahr her: Robert Habeck und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beim Parteitag kurz vor Bundestagswahl 2021. | Bild: Kay Nietfeld/dpa

Die Bundestagswahl hat dann zwar keine grüne Kanzlerin hervorgebracht, aber man war auf dem besten Weg zur Regierungsbeteiligung. Selfies vom grünen und liberalen Spitzenpersonal in bester Stimmung machten die Runde – es wirkte wie eine Art Klassentreffen einer neuen Politikergeneration, die entdeckte, dass sie bei allen Unterschieden doch einiges gemeinsam hatte: Gesellschaftlichen Fortschritt wollte man erreichen. Liberale Drogengesetze, Minderheitenschutz, erneuerbare Energien. Mit anderen Worten: Aufbruch in die Zukunft!

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Viele Kröten zu schlucken

Ein Jahr später ist wenig übrig geblieben von der selbst ernannten Fortschrittskoalition aus SPD, Grünen und FDP. Multiple Krisenbewältigung nennt man das, womit sich die Ampel spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs im Frühjahr fast pausenlos beschäftigt: Coronakrise, Klimakrise, Energiekrise, Inflationskrise, der Krieg und alle seine Folgen. Krisenpakete wurden geschnürt, Sondervermögen aufgestellt, die Zeitenwende ausgerufen – allerdings nicht die, die sich zumindest die Grünen einmal vorgestellt hatten.

Wenn die Ökopartei an diesem Wochenende zu ihrem Bundesparteitag in Bonn zusammenkommt, dürfte wenig vom Optimismus des vergangenen Jahres übrig sein. Die Grünen müssen in dieser Koalition viele Kröten schlucken, wie alle Partner. Der FDP macht die massive Schuldenaufnahme schwer zu schaffen, die SPD hat nie davon geträumt, die Bundeswehr hochzurüsten. Von den geplatzten Träumen einer stabilen Energiepartnerschaft mit Russland gar nicht zu reden.

Es geht an die grünen Wurzeln

Bei den Grünen gehen die Erfordernisse der Zeit an die Wurzel des Selbstverständnisses. Anti-Atomkraft-Bewegung und Parteigründung sind nur schwer voneinander zu trennen. Wer Grün wählt, tat das lange Zeit auch aus einem ganz bestimmten Grund: Die Atomkraftwerke sollten abgeschaltet werden, das nukleare Risiko sollte endlich vom Netz.

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, spricht bei einer Wahlkampfveranstaltung vor der ...
Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, spricht bei einer Wahlkampfveranstaltung vor der Niedersachsen-Wahl. Auch auf dem Bundesparteitag wird der Grünen-Vorsitzende viel erklären müssen. | Bild: Moritz Frankenberg/dpa

Nun also ist alles anders. In der Energiekrise trennt sich Robert Habeck quasi vom Familienalbum. Zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke sollen bis zum Frühjahr weiterlaufen, wenn der Strom knapp wird. Und das könnte noch nicht das Ende der Fahnenstange sein: Denn nicht nur die FDP fordert, die Verlängerung bis 2024 fortzusetzen.

Tatsächlich muss man zumindest einkalkulieren, dass Energie im kommenden Winter ähnlich knapp ist wie in diesem. Durchaus möglich, dass sich die Grünen noch etwas mehr verbiegen müssen, um Koalition und Land zusammenzuhalten.

Wie schwer der Verzicht fällt

Was den Grünen – vor allem den Klimaschützern – noch mehr wehtut, ist die Reaktivierung der Kohlekraftwerke. Auch das ist notwendig, weil Deutschland keinen flächendeckenden Stromausfall riskieren kann, weil unser industrialisiertes, mobiles, reiches Land nicht ohne diese massive Energiezufuhr leben kann. Nicht so, wie wir heute leben.

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Die aktuelle Krisensituation zeigt auch, wie unendlich schwer die Energiewende werden wird, die sich die Grünen eigentlich vorgenommen hatten. Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann, selbst Grünen-Mitglied, hat es gerade in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ ausgerechnet: Wie viel Windkraft und Photovoltaik zugebaut werden müssten, um unseren enormen Energiehunger zu stillen. Ihr Fazit: Der Ökostrom wird hinten und vorne nicht reichen, um unseren mobilen, konsumorientierten Lifestyle, ja unser ganzes Wirtschaftsmodell zu unterhalten.

Der Traum vom grünen Wachstum, den auch die Grünen gerne propagieren, nach dem Motto „Ihr dürft alle so weiterleben wie bisher, nur halt mit Ökostrom!“ – ein Trugbild. Um die Klimaneutralität zu erreichen, müssten wir nach Herrmanns Ansicht auf Essensmarken und Kriegswirtschaft umstellen.

Bewahrung der alten Normalität

Das mag eine Einzelmeinung sein, in den Details vielleicht etwas versponnen – doch das Szenario erscheint höchst plausibel. Es macht jedenfalls deutlich, wie meilenweit Deutschland trotz vollmundiger Ankündigungen von allen Klimazielen entfernt ist.

Die aktuell schwierige politische Lage führt außerdem vor Augen, wie schwer wir uns mit dem Verzicht tun. Ein paar Grad weniger im Wohnzimmer, und wir befinden uns schon kurz vor der Ausrufung des nationalen Katastrophenfalls. Um ja niemandes Ärger auf sich zu ziehen, verteilt die Ampel deshalb munter Geld in alle Richtungen. Die alte Normalität, der Wohlstand muss bewahrt bleiben, koste es, was es wolle.