Herr Michalsen, Sie sind als Sohn eines Kneipp-Arztes in Bad Waldsee aufgewachsen und schon früh mit dem Fasten in Berührung gekommen, weil Ihr Vater jede Woche einen Fastentag einlegte. Wie hat er das gemacht?
Er fastete mit Weizenkeimen, die er morgens und mittags in eine kleine Schale mit Wasser gegeben hat. Den Rest des Tages hat er nichts gegessen. Als Kind habe ich das beobachtet und mich gewundert, was der Vater da wohl macht.
Hat Sie das beeinflusst?
Natürlich prägt einen das. Wenn man die rebellische Phase hinter sich hat, holt man diese Erinnerungen wieder hervor. Ich habe auch erlebt, dass es funktioniert und dankbare Patienten zu meinem Vater kamen.

Die Versuchung ist groß: Heute stehen mehr als 160 000 Lebensmittel in den Regalen der Supermärkte. Was bedeutet es für den Körper, wenn wir beim geringsten Appetit sofort anfangen zu essen?
Schon bei kleineren Snacks, die wir zwischendurch essen, wird das ganze Verdauungssystem aktiviert, also eine Heerschar an Signalmolekülen, die diese Nährstoffe bis in die Zellen transportieren. Wenn das zu oft passiert, werden viele der Rezeptoren resistent, an denen diese Moleküle andocken. So liegt bei Diabetes Typ 2 eigentlich eine Insulinresistenz vor: Insulin, das dafür sorgt, dass der Zucker in die Zelle kommt, wird blockiert, weil es zu oft und in zu großer Menge kommt. Auch die Selbstreparatursysteme des Körpers werden nur aktiviert, wenn bei der Verdauung eine Pause eintritt.
Welche Folgen hat es, wenn diese Pausen fehlen?
Das führt zu Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und kann auch Entzündungen im Körper hervorrufen. Aus Tierversuchen wissen wir bereits, dass die Zellen durch ständiges Essen früher altern.
...und durch Fasten die Zellalterung gebremst wird?
Ja, genau.
Ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Fasten Krankheiten vorbeugt?
Im Tierexperiment schon. Und es ist sehr naheliegend, dass es beim Menschen auch so ist. Wenn Sie belegen wollen, dass Fasten eine Krankheit 100-prozentig verhindert, brauchen Sie allerdings Studien, die 20 bis 30 Jahre dauern. Die gibt es aber noch nicht.

Welche Krankheiten sind das zum Beispiel?
Man kann durch Fasten bei den meisten chronischen Erkrankungen Beschwerden lindern oder den Verlauf verbessern, beispielsweise bei Diabetes, Bluthochdruck oder Rheuma. Und man kann viele Erkrankungen eben auch am Entstehen hindern, vor allem multiple Sklerose, Demenz, Herz-/Kreislauferkrankungen sowie Gefäßverkalkungen.
Wie schnell stellt sich ein solcher Effekt beim Fasten ein, wenn wir daran denken, dass jemand mit 50 damit beginnt?
Wie beim Sport durchlaufen die Zellen beim Fasten eine Art Training: Je früher man damit anfängt, desto besser stellen sie sich darauf ein. Wenn man ein Leben lang Sport treibt, ist es besser, wie wenn man erst mit 50 damit anfängt. Doch grundsätzlich kann man in jedem Alter damit anfangen. Kinder und Jugendliche sollten grundsätzlich nicht fasten, auch Patienten mit Gicht und Gallenbeschwerden nicht, oder jene, die früher eine Essstörung hatten.
Können Sie an einem Beispiel erklären, was genau beim Fasten im Körper passiert?
Nehmen wir einen Patienten mit Ende 50, der einen kleinen Bierbauch hat. Er nimmt zwei Medikamente gegen zu hohen Blutdruck. Durch sein leichtes Übergewicht hat ihm der Hausarzt gesagt, dass er einen Prä-Diabetes hat und der Zuckerspiegel manchmal bei Belastung nach oben geht. Außerdem hat er wegen seines Gewichts leichte Rückenschmerzen. Innerhalb von zwei, drei Tagen wirkt das Heilfasten entwässernd und insulinsenkend. Sein Zuckerspiegel normalisiert sich, sein Blutdruck senkt sich auf Normalwerte, seine Schmerzen gehen zurück. Und er wird entwässern und dadurch in Verbindung mit dem Fettabbau in den ersten Tagen zwei bis drei Kilo an Gewicht verlieren. Da müssen wir die Patienten oft enttäuschen, weil sie denken, das wäre alles Fett, was sie verlieren. Aber da ist natürlich auch Wasser dabei.
Gibt es auch Effekte, die sich erst nach einiger Zeit einstellen?
Ja, und zwar die so genannte Autophagie, die Zellreparatur. Fastenstunden und Fastentage sind für den Körper Phasen, in denen er sich stärker der Reparatur von Genen, Proteinen und Mitochondrien widmen kann. Beim Fasten wird dem Gehirn mehr Serotonin zur Verfügung gestellt. Dieser Effekt hält weit über das Fasten hinaus an und ist auch der Grund für die stimmungshebende Wirkung.
Wodurch unterscheiden sich Heilfasten und Intervallfasten?
Das Heilfasten ist der Klassiker, das über Jahrhunderte in der Medizin immer wieder aufflammte und im deutschsprachigen Bereich vor allem durch Otto Buchinger und Franz Xaver Mayr berühmt geworden ist. Dabei fastet man ein bis zweimal im Jahr mehrere Tage am Stück, manchmal sogar bis zu vier Wochen, wenn man genügend Fettreserven hat. Die Regel sind fünf bis 14 Tage. Nach den ersten 48 Stunden ist Hunger kein Thema mehr. Das ist keine Nulldiät, sondern man trinkt ein bis zwei Mini-Gläser Saft plus eine kleine Menge Gemüsebrühe. Dadurch reduziert man den Muskelabbau, den man vermeiden will. Beim Intervallfasten legt man regelmäßig unter der Woche oder täglich Essenspausen ein.
Beim Intervallfasten gibt es verschiedene Methoden. Zu welcher raten Sie?
Ich empfehle das 16:8-Fasten. Das heißt man isst 8 Stunden pro Tag und 16 nicht, wobei man diese um die Nachtruhe herum legt, während der man ja schon sieben bis acht Stunden nichts isst. Wobei ich das nicht so genau nehme. Ich denke, es muss auch immer zum Leben des einzelnen passen. Denkbar ist auch 15:9-Fasten oder auch 14:10. Es ist auch schon gut, wenn man anfängt, wie früher bei Großmutter ordentliche Hauptmahlzeiten zu essen und die Snacks zwischendurch wegzulassen. Zum Intervallfasten muss man sich ein bisschen motivieren, aber es sollte nicht zum Zwang werden. Es muss sich gut anfühlen.
Die Methoden des Intervallfastens
Welche Art des Intervallfastens zu einem passt, müsse jeder für sich herausfinden, sagt Andreas Michalsen. Eine Auswahl:
Und das macht man jeden Tag?
Das sollte man ungefähr an fünf Tagen der Woche machen, um eine Wirkung zu erreichen. Im Moment streitet sich die Wissenschaft noch darüber, ob es besser ist, das Frühstück auf später zu schieben oder das Abendessen vorzuziehen. Die meisten raten gerade Menschen mit Übergewicht und Diabetes, eher zum späten Intervallfasten. Frühstückt man dann morgens um 8 Uhr, isst man entsprechend am Vorabend schon vor 18 Uhr, um auf eine 14-stündige Pause zu kommen. Das ist leicht umzusetzen, ohne dass man die Gesamtkalorienmenge reduzieren muss. Wer erst um 24 Uhr ins Bett geht, für den ist es wahrscheinlich besser, wenn er morgens nur einen Kaffee trinkt und dann ordentlich zu Mittag isst.
Sie selbst lassen ja eher das Frühstück weg...
Meistens. Heute habe ich gefrühstückt, weil die Kinder Lust dazu hatten. Ich versuche, mein Leben nicht nach der Uhr auszurichten. Oft trinke ich nur einen Kaffee morgens und schaue, dass ich um 12 Uhr ein gutes Mittagessen habe.
Politiker und andere, die es sich leisten können, gehen eher zum Heilfasten und checken in eine Fasten-Klinik ein. Da denkt sich dann so mancher: Der geht wieder zum Abspecken...
Natürlich will jeder wissen, was mit seinem Gewicht passiert, wenn er fastet. Doch das Abnehmen steht dabei nicht im Vordergrund. Der Effekt ist auch nicht sehr anhaltend und nachhaltig, wenn man eine Woche fastet, und danach wieder anfängt, Pommes und Currywurst zu essen.
Da hätte man dann auch den gefürchteten Jo-Jo-Effekt und innerhalb kurzer Zeit die Kilos wieder drauf.
Genau. Der Körper senkt seinen Energiebedarf beim Fasten ab; weil er merkt, dass nichts kommt, verbraucht er auch weniger. Wenn man unmittelbar danach sich genauso den Magen vollschlägt wie vorher, hätte man den Jo-Jo-Effekt. In der Praxis ist das aber eher selten der Fall, weil die Menschen das Fasten als tiefe Erfahrung erleben und sich dann auch bewusster ernähren.
Was ist denn nun besser: Heilfasten ein- bis zweimal im Jahr oder Intervallfasten, das man beinahe täglich macht?
In meiner naturheilkundlichen Abteilung fasten jedes Jahr etwa 1000 der 1500 stationären Patienten im Rahmen der medizinischen Therapie. Durch dieses Heilfasten kann man bei Erkrankungen innerhalb von ein bis zwei Wochen sehr gute Effekte erzeugen: Schmerzen und Rheumabeschwerden bessern sich, ein schwer einstellbarer Bluthochdruck normalisiert sich. Wir empfehlen den Patienten dann, auf eine möglichst vegetarische und vollwertige Ernährung umzusteigen und zusätzlich an möglichst vielen Wochentagen Intervall zu fasten. Beim Intervallfasten stellen sich solche Effekte meist erst nach mehreren Wochen ein.
Sie sind Chefarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin – das ist in Deutschland die Ausnahme. Welche Patienten behandeln Sie?
Das stimmt, es gibt nur wenige solcher Abteilungen in Deutschland – außer Berlin, in Essen, München und Bamberg. Und das, obwohl 70 Prozent aller chronischen Erkrankungen ihre Ursache auch in falscher Ernährung haben. Wir sind eine internistische Abteilung und behandeln Patienten mit Erkrankungen der inneren Organe oder Schmerzsyndromen, wie Diabetes, Bluthochdruck, Rheuma, Arthrosen, multiple Sklerose, chronische Herz- und Darmerkrankungen. Und das von Anfang an auch mit naturheilkundlichen Verfahren.
Weshalb tut sich die Schulmedizin mit dem Thema so schwer?
Eigentlich tut sie sich inzwischen damit nicht mehr so schwer. Ich habe kürzlich bei einem großen Kongress vor 700 Allgemeinmedizinern zum Fasten referiert, die alle sehr interessiert am Thema waren, und habe keinen erlebt, der gesagt hätte, Fasten sei gefährlich, so wie man früher davor warnte.
Doch Sie sind immer noch ein Exot mit Ihrer Abteilung...
Das ist in der Tat ein Problem. Wenn eine Patientin heute zu ihrem Hausarzt geht und sich nach dem Fasten erkundigt, zuckt dieser die Schulter und rät ihr, sich in einer Fastenklinik anzumelden, wenn sie es sich leisten kann. Das Fasten müsste viel mehr auch in Krankenhäusern und Reha-Kliniken Einzug halten. Wer zum ersten Mal heilfastet, sollte sich in eine Klinik begeben oder sich von einer Fachkraft ambulant begleiten lassen. Ich überlege, Modellprojekte mit den Kassen anzustoßen, um integrierte, auch ambulante, Versorgungen zu ermöglichen und mehr Ärzte zu schulen.
Bei den Fastenkongressen der Klinik Buchinger in Überlingen waren sie schon in Ihrer Zeit als Assistenzarzt und staunten über beeindruckende Fallberichte. Welche können Sie heute erzählen?
Einer meiner Patienten, ein Mann Mitte 50, mit Diabetes, der Insulin und zusätzlich zwei Medikamente brauchte, war vergangenes Jahr zum ersten Mal zum Heilfasten bei uns. Danach begann er, sich vegetarisch zu ernähren mit wenig Milchprodukten. Jetzt kam er noch einmal in die Klinik zum Heilfasten: Heute braucht er keine Medikamente mehr und auch kein Insulin. Er hat 15 Kilogramm abgenommen und auch immer wieder das Intervallfasten gemacht.
Sie machen Forschungen, inwiefern sich Fasten als ergänzende Therapie bei Krebs unter Chemotherapie eignet. Was wissen Sie bereits?
Ich bekomme viele Anfragen, ob sich durch Fasten der Krebs besiegen oder die Nebenwirkungen der Chemotherapie damit reduzieren ließen. Das lässt sich derzeit aber noch nicht beantworten. Da müssen wir die Studienergebnisse abwarten, die in etwa ein bis zwei Jahren vorliegen. Tierexperimente zeigen, dass nicht nur die Chemotherapie besser verträglich ist, wenn man um sie herum fastet, sondern dass auch die Krebszellen besser bekämpft werden. Wir haben bei Brustkrebspatientinnen festgestellt, dass sie die Chemotherapie besser vertragen, wenn sie 36 Stunden vorher und 24 Stunden danach nichts zu sich nehmen außer kleinen Mengen Saft. Das war allerdings eine sehr kleine Studie mit nur 34 Patientinnen. Was ich jetzt schon empfehle: Krebs-Patienten sollten sich 60 Stunden um die Chemotherapie herum vegan und zuckerfrei ernähren. Ob man richtig fasten sollte, kann ich noch nicht sagen.
Wir haben viel über das Nichtessen gesprochen – was sollte man denn essen?
Man sollte sich vollwertig ernähren mit viel verschiedenem Obst und Gemüse, Nüssen, Gewürzen, nur wenig Milchprodukten und auf Fertig-Lebensmittel und weitgehend auf Fleisch verzichten. Auch von Fisch rate ich inzwischen aus ökologischen Gründen ab. Außerdem ist er mit Schwermetallen und Mikroplastik belastet.
Zur Person
- Andreas Michalsen, 1961 in Bad Waldsee geboren, ist Internist, Ernährungsmediziner und Fastenarzt. Als Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin forscht, lehrt und behandelt er mit den Schwerpunkten der Ernährungsmedizin, des Heilfastens und der Mind-Body-Medizin.
- Fastenkongress Überlingen: Zum Internationalen Kongress der Ärztegesellschaft für Heilfasten und Ernährung e.V. kommen am 29. und 30. Juni Ärzte und Forscher (unter ihnen auch Andreas Michalsen) auf Einladung der Klinik Buchinger Wilhelmi nach Überlingen. Infos für Interessierte, die teilnehmen möchten unter www.buchinger-wilhelmi.com (ink)