Herr Korte, Sie schreiben, dass 70 bis 80 Prozent der auf der Intensivstation Behandelten nach einer Corona-Infektion unter Langzeitfolgen leiden, 10 Prozent nach mildem Verlauf und es möglicherweise 1,5 Millionen Long-Covid-Betroffene in Deutschland gibt. Kann man von einer Volkskrankheit sprechen?

Im Moment kann man das sagen. Weil so viele Menschen für eine bestimmte Zeit ihres Lebens betroffen sind.

Eine Corona-Infektion kann nicht nur akute Folgen haben, sondern auch Monate und sogar Jahre zu körperlichen und geistigen Einschränkungen führen. Wann sprechen Sie von Long-Covid?

Wenn die Beschwerden nach einem negativen PCR-Test für mehr als sechs Wochen anhalten. Manche Patienten leiden seit Beginn der Pandemie bis heute unter Beschwerden, bei den meisten nehmen die meisten Symptome innerhalb eines Jahres aber wieder ab.

Er forscht zu Long-Covid: Martin Korte, Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig.
Er forscht zu Long-Covid: Martin Korte, Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig. | Bild: Marek Kruszewski

Zwischen 50 und 80 Prozent der Long-Covid-Erkrankten nennen Fatigue als Hauptsymptom. Viele Patienten sprechen auch von Gehirnnebel. Wie muss man sich das vorstellen?

Die Patienten beschreiben eine extreme Müdigkeit und Erschöpfung, die sich durch Schlaf und Erholungsphasen nicht verbessert, und verschlechtert, wenn sie zwischendurch Phasen erhöhter Aktivität haben. Das ist relativ ungewöhnlich auch in Abgrenzung zu einer Depression, bei der Betroffene ja auch eine tiefe Erschöpfung empfinden. Das wird bei Depressionen durch Bewegung, Sonnenlicht und Schlaf besser, bei einer Fatigue nicht.

Was passiert bei Fatigue im Körper?

Das erforschen wir. Die Patienten beschreiben ein Gefühl der Benommenheit im Kopf vergleichbar mit übermäßigem Alkoholgenuss. Wir vermuten, dass Fatigue mit entzündlichen Prozessen im Gehirn zu tun hat, die dort die Energiebereitstellung vermindern. Das bedeutet, dass die Nervenzellen im Gehirn, aber auch sogenannte Gliazellen, die diese unterstützen, in den Mitochondrien, den Zell-Kraftwerken, weniger Energie zur Verfügung stellen und schneller ermüden. Das Gehirn reagiert mit einer Verlangsamung der Prozesse, mit weniger Rechenkapazität, zum Teil sogar mit Abbauprozessen.

Was raten Sie Betroffenen?

Das einzige, was ich empfehlen kann, ist eine Long-Covid-Klinik ausfindig zu machen und mit einem Ärzte-Team zusammenzuarbeiten. Tagebuch führen, welche Tätigkeiten einen besonders beanspruchen. Den nächsten Tag genau planen. Erholungsphasen einbauen. Aber auch nicht gar nichts mehr zu tun. Von der Muskulatur weiß man, dass sie sich bei weniger Beanspruchung weiter abbaut. Man muss den Aktivitätslevel finden, der einem guttut, ohne dass man wieder für eine ganze Woche mit den Folgen zu kämpfen hat.

Das heißt, das Gehirn verändert sich?

Ja, man hat festgestellt, dass die Großhirnrinde bei Long-Covid-Patienten kleiner geworden ist. Die Nervenzellen sind regelrecht geschrumpft. Doch wir wissen durch Tierexperimente, dass viele dieser Prozesse sich auch wieder erholen. So können Nervenzellen sowohl schrumpfen und Energie sparen, doch wenn der Zustand sich verbessert, auch wieder wachsen.

Eine elektronenmikroskopische Aufnahme des SARS-CoV2-Virus.
Eine elektronenmikroskopische Aufnahme des SARS-CoV2-Virus. | Bild: dpa

Lange hat man gedacht, dass entzündliche Prozesse im Körper mit dem Gehirn nichts zu tun haben. Doch das ist bei SARS-CoV-2 nicht der Fall.

Genau. Heute wissen wir, dass entzündliche Prozesse im Körper über Signalmoleküle, aber auch durch die Immunzellen selber ins Gehirn gelangen können. Was wir nicht verstehen ist der Umstand, dass im Gehirn die entzündlichen Prozesse nach dem Abklingen der Infektion noch anhalten, während die entzündliche Reaktion im Körper wieder abgestellt wird, wie man bei einer entzündlichen Reaktion der Haut sehen kann, die sich nach einer kurzen Rötung wieder normalisiert. Wir wissen nicht, warum sich diese Prozesse im Gehirn bei 5 bis 10 Prozent aller Patienten, die einmal eine SARS-CoV-2-Infektion hatten, nicht beruhigen.

Die fünf häufigsten Long-Covid-Symptome, betreffen vier Funktionen, die etwas mit dem Gehirn zu tun haben: Fatigue, Gedächtnisprobleme, Konzentrationsschwierigkeiten, Geruchs- und Geschmackseinschränkungen. Wie schwerwiegend sind diese?

Ganz unterschiedlich. Für das Privatleben und für das persönliche Erleben sehr einschränkend ist der Geruchsverlust. Aber der hält einen nicht vom Arbeiten ab. In den allermeisten Fällen wird das nach sechs Monaten bis einem Jahr wieder besser.

Man kann seinen Geruchssinn tatsächlich wieder trainieren, indem man jeden Tag an Geruchsfläschchen riecht. Bei Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten kommt es auf den Beruf an, den jemand ausübt. Meine Doktoranden haben darunter sehr gelitten. Dagegen ruiniert eine Fatigue das gesamte Leben, privat wie beruflich.

Beim sogenannten POTS-Syndrom bekommen Betroffene unkontrolliert Herzrasen und Schwindel. Hier haben sich periphere Nerven entzündet. Das führt zu Fehlfeuerungen, sodass, wenn man die Körperlage ändert, das Herz schnell anfängt zu schlagen. Für Wissenschaftler ist das ärgerlich, da muss man beim Aufstehen kurz warten, für Dachdecker ist das lebensgefährlich.

Long-Covid-Folgen treffen auch Jugendliche. Sie schreiben, dass sogar 3 bis 5 Prozent der Kinder, die sich infizieren, erkranken. Kann es also jeden treffen?

Die Erkrankung ist altersunabhängig. Frauen haben ein doppelt so hohes Risiko wie Männer zu erkranken, unterhalb des 60. Lebensjahres ist ihr Risiko sogar größer als das bei älteren Menschen. Das hat wahrscheinlich mit Autoimmunreaktionen zu tun. Auch bei Kindern muss man das ernst nehmen. Fünf Prozent ist eine Schätzung, manche sprechen von 2,5 bis 3 Prozent.

Norditalien traf es sehr schlimm im Frühjahr 2020: Blick auf eine Intensivstation.
Norditalien traf es sehr schlimm im Frühjahr 2020: Blick auf eine Intensivstation. | Bild: Massimo Paolone/dpa

Auch 10 Prozent derjenigen, die einen milden Covid-Verlauf hatten, entwickeln Long-Covid. Was haben die 90 Prozent, die verschont bleiben, was die anderen nicht haben?

Das würden wir gerne verstehen. Es zeigt aber auch, dass eine Mehrheit der Menschen, die sich mit dem Virus infizieren, nicht an Long-Covid erkrankt. Neben Frauen, die häufiger erkranken, sind es oft Menschen mit Autoimmunerkrankungen, die Diabetes haben oder stark übergewichtig sind.

Wer bekommt typischerweise kein Long-Covid?

Ein Mann mit mildem Verlauf und ohne Risikofaktoren. Doch es gibt auch Männer, auf die das alles zutrifft, und die trotzdem Long-Covid entwickeln. Am Ende scheint es ein Roulettespiel zu sein, wer es kriegt und wer nicht. Wir glauben, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer gibt, weil nicht jeder mit Geruchsverlust oder Konzentrationsschwierigkeiten beim Arzt vorstellig wird.

Senken Impfungen das Risiko, Long-Covid zu entwickeln?

Ja, eine Impfung verhindert zwar nicht Long-Covid, aber sie halbiert das Risiko dafür – bei Kindern und Erwachsenen.

Prof. Dr. Martin Korte: „Long Covid – wenn der Gehirnnebel bleibt. Die gefährlichen Langzeitfolgen von Corona.“ DVA ...
Prof. Dr. Martin Korte: „Long Covid – wenn der Gehirnnebel bleibt. Die gefährlichen Langzeitfolgen von Corona.“ DVA München, 251 Seiten, 18 Euro | Bild: dva

Sie haben herausgefunden, dass das Gehirn nach einer Grippeinfektion noch lange danach in seiner Funktion beeinträchtigt ist. Inwiefern sehen Sie Parallelen zum SARS-CoV-2-Virus?

Das sind ganz ähnliche Mechanismen. In unserer Studie zeigte sich, dass sich bei schweren Grippeverläufen und mit zunehmendem Alter, noch Monate später Auswirkungen im Gehirn zeigen. Bei leichten Grippe-Verläufen haben wir das nicht beobachtet. Als wir das veröffentlicht haben, bekam ich viele Zuschriften von Internisten, die genau das bei ihren älteren Patienten mit schweren Grippeverläufen beobachtet haben: Diese kamen Monate später in die Praxis und die Ärzte sahen, dass ihr IQ gelitten hat.

Man sieht, auch bei anderen viralen Erkrankungen muss man das ernst nehmen. Aber Long-Covid ist in der Häufigkeit und dadurch, dass es auch bei milden Verläufen auftreten kann, nicht mit der Grippe vergleichbar, wohl weil es gleich mehrere Organe betrifft.

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Gibt es erfolgversprechende Therapien?

Bei Long-Covid führen entzündliche Reaktionen im Gefäßsystem dazu, dass sich kleine Gefäße kontrahieren. Das wirkt sich besonders im Gehirn mit seinen vielen kleinen Gefäßen aus. Es bilden sich auch sogenannte Thromben, Blutplättchen-Verklumpungen, die man durch Blutverdünner möglicherweise auflösen kann. Der Arzt sollte schauen, ob es eine Thrombenbildung im Blut oder Entzündungsmarker gibt. Ein hoher EBV-Titter (Epstein-Barr-Virus) ist ein Indikator ebenso wie das Stresshormon Cortisol, das aber nicht hoch-, sondern runterreguliert ist. Und es gibt hochregulierte Signalfaktoren des Immunsystems wie das Interleukin 8. Da müsste man schauen, ob man möglicherweise das Immunsystem ausbremst.

Wir haben auch schon beobachtet, dass bei manchen Patienten durch eine weitere Corona-Impfung eine Verbesserung der Symptome eingetreten ist. Im Moment gibt es keine etablierte standardisierte Therapie.

Sie schreiben, dass eine Long-Covid-Erkrankung das Gehirn in seiner Leistungsfähigkeit vorübergehend ähnlich beeinträchtigen kann, als sei es um 20 Jahre gealtert. Was bedeutet das?

Entzündliche Prozesse im Gehirn sind ein Risikofaktor für das Auftreten neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer. Wenn wir Long-Covid ignorieren, verstärken wir in 10 bis 20 Jahren die ohnehin schon starke Alzheimerwelle, die auf uns zurollt.

Ich hoffe, dass wir ganz schnell etwas finden, das gegen Long-Covid zumindest im Gehirn wirkt. Und dass wir uns und unser Immunsystem an das Virus anpassen, unterstützt durch die Impfungen, sodass hoffentlich 2023/24 deutlich weniger Menschen an Long-Covid erkranken. Ansonsten habe ich Angst vor einer Alzheimerwelle.