Nach der Massenschlägerei zwischen zwei syrischen Großfamilien in der Singener Innenstadt im März mit zehn Verletzten steht nun der erste Prozesstermin fest: Ein junger Mann muss sich am 5. Oktober vor dem Jugendschöffengericht in Konstanz wegen des Verdachts der Körperverletzung verantworten.
Der Angeklagte ist ein Heranwachsender, der zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alte Syrer befindet sich seit Ende April – also seit mehr als vier Monaten – in Untersuchungshaft. „Der junge Mann ist bereits strafrechtlich vorbelastet. Im Hinblick auf eine mögliche Fluchtgefahr hat die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl beantragt – und er ist bewilligt worden“, erklärt Franz Klaiber, Direktor des Amtsgerichts Konstanz dem SÜDKURIER die Hintergründe der Inhaftierung.
26 weitere Beschuldigte im Fall der Singener Massenschlägerei sind auf freiem Fuß. Bei ihnen würden laut Johannes-Georg Roth, Chef der Konstanzer Staatsanwaltschaft, Ermittlungshandlungen der Polizei und deren Ergebnisse noch fehlen, weshalb es noch keine Anklagen oder Einstellungen der Verfahren gebe. „Wie immer bei einem unübersichtlichen Geschehen mit wechselseitigen Tätlichkeiten vieler ist die rechtliche und tatsächliche Beurteilung nicht ganz trivial“, so Roth.
Entscheidung zu „Bullenkloster“-Schlägerei
Wie schwer sich Strafverfolgungsbehörden nach massenhaften Körperverletzungen tun können, mutmaßliche Täter einer entsprechenden Strafe zuzuführen, zeigt das Beispiel einer weiteren Massenschlägerei in Singen. Im dortigen ‚Bullenkloster‘ lebten einst bis zu 240 alleinstehende Arbeiter aus ganz Deutschland und heute vor allem Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund auf engstem Raum unter einem Dach.

Im Mai 2021 schlugen dort zwei Familien aus Afghanistan und Syrien, darunter auch Mädchen und Frauen, aufeinander ein. Laut Polizei bewaffneten sie sich mit Holzstöcken, vorgefundenen Eisenstangen, Steinen, einem Hammer und einem Schlagring. Die Folge waren sechs Verletzte, darunter vier Schwerverletzte. „Beginn und Verlauf ließen sich indessen nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Gewissheit aufklären“, erklärt Staatsanwalt Roth auf SÜDKURIER-Anfrage.
Die Beweislage sei undurchsichtig geblieben, zumal objektive und neutrale Tatzeugen nicht zur Verfügung gestanden hätten. „Weitere Ermittlungsansätze waren nicht verfügbar (…), das Verfahren wurde eingestellt“, so Roth.
Die Hälfte hat bezahlt
Anders als in diesem Fall hatte die Massenschlägerei vom März 2022 bereits eine direkte Konsequenz: Als Reaktion hatte die Stadt Singen gegen 27 mutmaßliche Beteiligte ein dreimonatiges Betretungsverbot der Innenstadt samt Gebührenbescheid über jeweils 144 Euro verhängt.
Wie viele diesen nach Ablauf der Verbots bezahlt haben, wollte die Stadt Singen auf Anfrage zunächst nicht sagen. Erst nach Hinweis auf den gesetzlichen Auskunftsanspruch, der der Presse wegen des öffentlichen Interesses an dem Fall zusteht, gab es eine Antwort.

Zehn Betroffene haben bis Ende August ihren Gebührenbescheid bezahlt, drei weitere baten um eine Ratenzahlung, die die Stadt gewährte. Zwei Fälle sind noch offen und zwölf Betroffene legten Widersprüche gegen die Gebührenbescheide über 144 Euro ein. In zwei Fällen hat das Verwaltungsgericht Freiburg Widersprüche gegen das Aufenthaltsverbot bereits abgelehnt. Beide Kläger müssen nun auch Gerichtskosten in Höhe von jeweils 241,50 Euro bezahlen.
15-Jähriger mit 1000 Euro Strafe
Die Polizei hat fünf Beteiligte der Massenschlägerei beim Verstoß gegen das Vertretungsverbot erwischt, das von Ende April bis Ende Juli jeweils von Montag bis Samstag von 13 bis 21 Uhr im Singener Zentrum galt. Sie hätten die Innenstadt nur mit einem triftigen Grund, zum Beispiel ein Arztbesuch, und vorheriger Genehmigung durch das Ordnungsamt Singen betreten dürfen.

Gegen diese fünf Personen verhängte die Stadt ein Bußgeld von jeweils 500 Euro. Unter ihnen ist ein 15-jähriger Schüler, der einmal vor dem Einkaufszentrum Cano am Weg zum Bahnhof und einmal in einem Supermarkt beim Einkaufen angetroffen wurde. Laut Stadt Singen habe ihm die Polizei mitgeteilt, dass er nicht durch die Verbotszone zum Bahnhof laufen dürfe, sondern außen herum gehen müsse. Der 15-Jährige erhielt für die zwei Verstöße gegen das Aufenthaltsverbot 1000 Euro Bußgeld.
Doppelt bestraft?
„Die Strafen sind nicht angemessen“, sagt Esat Kisaoglu. Der gebürtige Türke und langjährige Singener unterstützt syrische Familien bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen, darunter auch eine, die an der Massenschlägerei beteiligt war. „Ich war mit diesen Leuten dreimal bei der Polizei, weil sie bedroht und attackiert wurden, aber es wurde bis zur Schlägerei nichts unternommen“, sagt Kisaoglu.

Seine Schützlinge hätten sich damals lediglich verteidigt und würden zum Teil in der später gegen sie verhängten Verbotszone Innenstadt arbeiten. „Die Stadt hätte einen Unterschied machen müssen und nicht alle in einen Topf schmeißen dürfen – sie wurden doppelt bestraft“, ist Kisaoglu überzeugt.
Ausnahmen wären genehmigt worden
Die Stadt Singen sieht das anders. Die Recht- und Verhältnismäßigkeit des von ihr nach mehreren gewaltsamen Auseinandersetzungen ausgesprochenen Aufenthaltsverbots in der Innenstadt habe das Verwaltungsgericht Freiburg mehrfach bestätigt.
„Sollte es einen dringenden Grund für einen Aufenthalt in der Verbotszone gegeben haben, hätte diejenige Person dies im Vorfeld beim Ordnungsamt anmelden müssen“, teilt Sprecher Stefan Mohr auf Anfrage mit. Ein Schul- oder Arbeitsweg wäre für den Hin- und Rückweg laut Stadt mit Sicherheit genehmigt worden.
Stadt zieht Pfändung in Betracht
Alle fünf Betroffenen haben jedenfalls fristgerecht Einspruch gegen die sechs Bußgelder eingelegt und ihre Strafen noch nicht bezahlt. Das Amtsgericht Singen muss nun entscheiden, ob die Verhängung der Bußgelder rechtmäßig war.
Sollte nach der voraussichtlichen gerichtlichen Bestätigung ein Betroffener seine Gebührenbescheide oder Bußgelder weiter nicht bezahlen, dürfe die Stadt Singen eine Zwangsvollstreckung durchführen. „Hierfür haben wir einen Kollegen, der vor Ort pfändet und vollstreckt“, teilt Marcus Berger, Leiter des Ordnungsamts, auf Anfrage mit.
OB: „Alles, was rechtlich möglich ist“
Dort gebe es eine eigene Vollstreckungsabteilung, die auch eine Erzwingungshaft beantragen könne. „Dass eine Person das Bußgeld nicht bezahlen kann, befreit diese unserer Meinung nicht von ihrer Zahlungsverpflichtung“, so Stadtsprecher Mohr. Andernfalls bräuchten sich auch mittellose Personen – etwa im Straßenverkehr – an keine Geschwindigkeitsbegrenzungen mehr zu halten.
„Alles, was rechtlich möglich ist – unter Berücksichtigung sozialer Aspekte und der Verhältnismäßigkeit – werden wir einfordern“, kündigt Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler gegenüber dem SÜDKURIER an. Es gilt die Unschuldsvermutung.