Droht ein heißer Tarifherbst? Gemessen an der Ausgangslage – der Forderung von sieben Prozent mehr Lohn und Gehalt, mit der die IG Metall im Südwesten in die Verhandlungen gehen will – und der Zielmarke der Arbeitgeber, einer Nullrunde, ist das nicht auszuschließen. Für den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg wäre ein harter Arbeitskampf in der anstehenden Tarifrunde angesichts der aktuellen Lage Gift.

Denn Metall- und Elektroindustrie, Pfeiler des Wohlstands in Baden-Württemberg, stecken mitten in der größten Transformation, die die Unternehmen je bewältigen mussten. Fachkräftemangel in Wachstums- und Zukunftssegmenten steht neben massivem Arbeitsplatzabbau in Sektoren, die als Auslaufmodelle gelten – Stichwort Verbrennungsmotor. Ohne tiefe Verwerfungen, ohne Verlierer gehen solche Transformationsprozesse niemals ab.

An den Tarifpartnern ist es daher nun, mit Augenmaß zu agieren. Einerseits dürfen die Unternehmen nicht
tiefer in die Krise getrieben werden, andererseits darf es nicht allein Arbeitnehmern aufgebürdet werden, die Folgen von Inflation und Absatzflaute zu tragen. Denn nicht nur die wirtschaftliche, auch die gesellschaftspolitische Lage ist gefährlich instabil.

Selten war es so wichtig, dass die Tarifpartner im Auge behalten, dass eine Verhärtung der Fronten erneut nur den politischen Kräften nutzen dürfte, die von Unzufriedenheit und Unruhen profitieren. Drohen dann auch noch – wie bereits absehbar – Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge spürbar zu steigen, nach 2025 auch die Rentenversicherungsbeiträge, steckt im Gesamtgemenge ein erhebliches soziales Unruhepotenzial.

Im Raum steht zudem noch ein Konfliktthema neueren Ursprungs. Denn immer mehr Beschäftigte stehen im Arbeitsleben, die im Elternhaus im Bewusstsein stetig steigenden Wohlstands sozialisiert worden sind. Sie haben den Anspruch, dass das Leben mehr zu bieten haben muss als einen sicheren Arbeitsplatz (Stichwort Work-Life-Balance), schon mit der Muttermilch aufgesogen.

Was sich rächen könnte

Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hat manche von ihnen in den vergangenen Jahren in die Lage gebracht, sich den Arbeitsplatz aussuchen oder Bedingungen an den Arbeitgeber stellen zu können. Den Gürtel enger zu schnallen, sich für sein Geld weniger leisten zu können, mehr zu arbeiten, weniger Zeit für Familie oder Freizeit zu haben – das dürfte für viele jüngere Beschäftigte, wenn sie nicht gerade eine persönliche Notsituation erleben, eine neue Erfahrung sein.

Fragt sich, ob sie dazu überhaupt bereit sind. Der Zusammenhang zwischen einer leistungsfähigen Wirtschaft und einem leistungsfähigen Staat einerseits sowie leistungsbereiten Arbeitnehmern andererseits geriet im kollektiven Bewusstsein in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in den Hintergrund. Das könnte sich rächen.

Ein Spaltprodukt dieser Entwicklung sind auch die Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften, die lange Jahre nur nach unten zeigten. Wozu sich auch engagieren in der Gewerkschaft, wozu Mitgliedsbeitrag bezahlen und Solidarität üben, wenn doch auch so alljährlich verlässlich mehr Geld aufs eigene Gehaltskonto gespült wird? Erst jetzt, wo in den Geldbeuteln angekommen ist, was die Inflationsstunde geschlagen hat, schwächt sich dieser Abwärtstrend ab.

Da könnte es den Gewerkschaften zusätzlich Zulauf geben, wenn der gerade erst beschlossene Chemie-Tarifabschluss Schule macht: Wer Mitglied der IG BCE ist, bekommt vom Arbeitgeber künftig einen Tag mehr Urlaub. Feiert die Gewerkschaft ein Jubiläum, sogar einen zweiten Tag. Erstmals bundesweit gibt es damit einen Mitgliedervorteil für tariflich Beschäftigte in einem Flächentarifvertrag – die IG Metall dürfte sehr genau darauf schauen. Die Botschaft: Solidarität und Zusammenhalt lohnt sich. Nicht das schlechteste Signal in diesen Zeiten.