Herr Hengel, die Firma Biontech hat gerade verkündet, dass sie mit ihrem Impfstoff kurz vor dem Durchbruch steht. Wann werden wir alle durchgeimpft sein?

Ja, diese Meldung beherrscht gerade die Nachrichten. Mittel- und längerfristig wird die Impfstoffsituation aber komplizierter, weil wir vermutlich nicht einen Impfstoff gegen Covid-19 haben werden, sondern viele unterschiedliche. Wir müssen dann für jeden einzelnen Impfstoff Erfahrungen und Daten sammeln und die Ergebnisse kritisch vergleichen.

Es brauchen nicht alle Menschen mit der gleichen Dringlichkeit die Impfung. Man wird daher zunächst priorisieren und den vulnerablen Patienten Vorrang geben. Und es warten noch andere Hürden: Ein Teil der vulnerablen Menschen ist zum Beispiel alt. Ältere Menschen reagieren auf Impfung meist nicht mehr so effizient wie jüngere. Das heißt, wir brauchen auch Erfahrung darüber, wie der Impfstoff bei Älteren wirkt. Das zeigt schon, dass wir das Coronavirus-Problem nicht so schnell wegimpfen können. Wir brauchen weiter viel Geduld, müssen Schritt für Schritt den Erfolg gegen das Virus erarbeiten.

Professor Dr. Hartmut Hengel
Professor Dr. Hartmut Hengel | Bild: Jürgen Brandel

Diese Impfstoffe entstehen in Windeseile. Wie groß sind die die Risiken?

Nun, nur eine effektive Impfung wird die Coronapandemie mit ihrer Krankheitslast und den sozialen und wirtschaftlichen Schäden beseitigen können und eine absehbare Rückkehr zum normalen gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Jeder Impfstoffkandidat muss dazu zwei grundsätzliche Anforderungen zu erfüllen: Wirksamkeit und Sicherheit.

Das Risiko, dass ein Impfstoff einer dieser Grundanforderungen nicht genügt, ist immer möglich – daher werden Impfstoffe besonders sorgfältig klinisch geprüft und von unabhängiger staatlicher Stelle zugelassen. Nach der Zulassung kommt eine weitere hohe Hürde, die Empfehlung oder Nicht-Empfehlung durch die Ständige Impfkommission. Das Risiko, dass Impfstoffe auf dieser langen Strecke scheitern, ist durchaus beträchtlich.

Sie halten das beschleunigte Verfahren also für richtig?

Grundsätzlich ist es in einer Situation wie der jetzigen Pandemie sehr sinnvoll, dass man beschleunigte Zulassungsverfahren rechtlich ermöglicht hat. Es geht darum, dass man Impfstoffe schneller als sonst erproben und bewerten kann, denn dies dauert auf dem üblichen Weg einige Jahre.

Eine Zulassung ist übrigens eine vorläufige Zulassung, das heißt dass man weiter zu dem Impfstoff Daten sammelt und kontinuierlich auswertet. Also, die Forschung ist nach der Zulassung des Impfstoffs noch nicht beendet, sondern es gibt weitere Analysen, die sogenannte Pharmakovigilanz, und hierbei die Zusammenführung von Daten aus vielen Ländern, so dass die statistische Aussagekraft der Zahlen immer weiter steigt. Das kann dazu führen, dass gegebenenfalls Korrekturen an der Zulassung vorgenommen werden müssen oder sie sogar entzogen wird.

Von daher ist klar: Das Wissen über die Sicherheit eines Impfstoffs wächst mit der Zeit. Bei jedem Impfstoff ist deshalb das Risiko am Anfang immer etwas größer, als wenn man den Impfstoff schon sehr lange kennt. Das ist ein unvermeidbares Paradox: Man braucht Geschwindigkeit bei der Entwicklung, aber gleichzeitig auch Zeit für die weitere Analyse.

Ugur Sahin, Vorstandsvorsitzender des Biotechnologie-Unternehmens Biontech, und seine Frau Özlem Türeci, medizinische Geschäftsführerin ...
Ugur Sahin, Vorstandsvorsitzender des Biotechnologie-Unternehmens Biontech, und seine Frau Özlem Türeci, medizinische Geschäftsführerin von Biontech, sind die Eltern des derzeit vielversprechendsten Impfstoffes. | Bild: Andreas Arnold/dpa

Welche Gesundheitsrisiken birgt solch ein Impfstoff im Anfangsstadium?

Größere Sicherheitsmängel fallen früh auf. Einen Impfstoff mit offensichtlichen Mängeln wird der Hersteller gar nicht weiterverfolgen, schon des Imageschadens und des finanziellen Aufwandes wegen. Jeder zugelassene Impfstoff hat daher ein absolut akzeptables Sicherheitsrisiko erreicht, das sehr viel geringer als das Risiko der Sars-CoV-2 Infektion ist.

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Welche Erfahrungen haben wir mit anderen schnell kreierten Impfstoffen?

Bei der Schweinegrippe 2009 gab es einen Impfstoff, dem aufgrund eines sehr seltenen Risikomerkmals, das man erst im Nachhinein durch die Aggregation der Zahlen aus vielen EU-Ländern erkannt hat, die Zulassung wieder entzogen hat. Daher ist es so wichtig, dass man wissenschaftliche Studien durchführt und dass man Behörden hat, wie die EMA oder das Paul-Ehrlich-Institut, die in ihren Entscheidungen unabhängig sind von der Politik und von der Industrie sind, die nur auf die reinen Zahlen aus der Pharmakovigilanz schauen.

Wie ist die Lage an den Krankenhäusern in Baden-Württemberg im Moment?

Das unterscheidet sich durchaus von Ort zu Ort, in Abhängigkeit von der lokalen epidemiologischen Situation. Aber es gibt strategische Pläne, schwer erkrankte Patienten dort zu konzentrieren, wo die Behandlungsmöglichkeiten und die klinische Expertise am besten sind, etwa Organersatzverfahren bei Lungenversagen.

Die Zahl der Patienten hat deutlich zugenommen. Sind die Kliniken im Land schon am Limit?

Die Uniklinik Freiburg ist noch nicht am Limit, wir haben noch Betten-Kapazitäten frei.

Auch für die nächsten Wochen?

Ja. Die freien Kapazitäten hängen auch von den elektiven Eingriffen ab – also geplanten Operationen, die man im Zweifel verschieben kann. An der Uniklinik gibt es derzeit noch keinen Stopp für elektive Eingriffe. Wir arbeiten noch weitgehend normal. Das Verhältnis von behandlungspflichtigen und sehr schweren Infektionen ist im Vergleich zur ersten Welle eher etwas günstiger: Wir haben jetzt einen höheren Anteil nicht so schwer verlaufender Infektionen, aber das kann sich natürlich auch ändern.

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Die Gesundheitsämter sind am Anschlag. Wenn die Kontaktverfolgung irgendwann nicht mehr funktioniert – welche Alternativen gibt es dazu?

Man kann dann nur noch schweren Fällen und fokussiertem Ausbruchsgeschehen nachgehen – zum Beispiel Ausbrüchen im Krankenhaus oder in Alten- und Pflegeheimen. Wenn die zweite Welle mit einem hohem Infektionsgeschehen in Erscheinung tritt, muss man notgedrungen priorisieren. Eine andere Option ist es dann, auch ohne Testung Menschen nach einer Virusexposition vorbeugend in die Quarantäne zu schicken.

Wie befinden uns jetzt in einem Lockdown light. Wann kann man damit rechnen, dass sich da Erfolge einstellen?

Ganz genau wissen wir das nicht, aber die aktuelle Entwicklung in Berchtesgaden zeigt nach den dort getroffenen Maßnahmen klare Wirkung. Es ist eindeutig so, dass die zweite Welle einen anderen epidemiologischen Charakter hat als die erste. Die erste Welle war getragen von einer überschaubaren Zahl von Infektionsketten. Jetzt ist die Infektion überall in die Bevölkerung eingesickert, wir haben viele Infektionsereignisse, denen man nicht mehr lückenlos nachgehen kann. Deshalb wissen wir auch noch nicht, wie sich die Maßnahmen im Einzelnen auswirken.

Man könnte sich vorstellen, dass wir einen Zustand erreichen, wo es ein gewisses Gleichgewicht gibt zwischen Neuinfektionen und Eindämmungsmaßnahmen und wo wir dann hoffentlich mit einem R-Wert kleiner Eins die Infektionsaktivität langsam wieder nach unten steuern können. Aber wie lange das dauert – das können wir bisher nicht sagen. Mit dem heutigen Wissen können wir auch noch kein Ausstiegsszenario aus den derzeitigen Maßnahmen definieren. Ich denke, wir müssen uns eher darauf einstellen, dass die jetzigen Maßnahmen noch für längere Zeit gelten.

Also über den November hinaus?

Ich wäre nicht überrascht, wenn sie länger notwendig wären und im äußersten Fall sogar während des gesamten Winters, bis ins Frühjahr hinein.

Wie schätzen Sie die deutsche Lage ein im Vergleich zu den Nachbarländern?

Wenn man die Zahl der Neuinfektionen oder die Zahl der intensivpflichten Patienten vergleicht, muss man sagen, wir sind immer noch relativ günstig dran. Wir hoffen natürlich, dass das auch so bleibt.

Ist das einfach nur Glück? Oder eine Folge der relativ strikten Handhabung im Frühjahr?

Das ist nicht so leicht zu beantworten. Möglicherweise ist ein Grund, dass wir nach der ersten Phase auf ein relativ niedriges Infektionsniveau zurückgekehrt sind. Wir haben aufgrund unseres engagierten öffentlichen Gesundheitssystems und aufgrund des guten kollektiven Problembewusstseins in der Bevölkerung eher günstige Voraussetzungen. Und wir haben sicherlich bessere Steuerungsmöglichkeiten auf der lokalen Ebene als etwa in Frankreich, wo das alles zentralistisch organisiert wird.

Noch ein wichtiger Punkt ist die stringente Teststrategie und dass wir relativ viele PCR-Tests machen konnten. Im Moment sind wir bei 1,4 Millionen Testungen pro Woche – das ist schon eine beachtliche Zahl.

Schweden wird nicht nur von den so genannten Querdenkern immer noch als Positivbeispiel geführt, obwohl es dort auch viele Probleme gab. Wäre der schwedische Weg für uns tatsächlich der Richtige gewesen?

Der schwedische Weg wäre in Deutschland in ein großes Problem gemündet, weil wir die erste Welle mit einem ungleich größeren Schaden durchlaufen hätten. Man muss feststellen, dass Schweden sich durch seine epidemiologische Voraussetzungen leichter tut, die in Deutschland so nicht gilt: Das ist die geringe Bevölkerungsdichte. Schweden ist ein dünnbesiedeltes Land, in Deutschland leben die Menschen viel dichter und mit höherer Mobilität. Mit dem schwedischen Weg hätten wir in Deutschland schon in der ersten Welle eine drastisch höhere Zahl an Toten gehabt. Das hätte zu Situationen führen können, die wir sie in Bergamo gesehen haben.

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Immer mal wieder poppt die Debatte über das Isolieren von Risikogruppen diskutiert, zuletzt vom Tübinger OB Boris Palmer angestoßen.

Das halte ich für ein kompliziertes Thema. Es ist sicherlich wichtig, dass Menschen um ihr hohes Risiko wissen und sich freiwillig isolieren. Aber man muss bedenken, dass ein hoher Anteil von Risikopersonen mitten in der Gesellschaft lebt. Man schätzt, je nachdem, welche Gruppen man dazurechnet, dass zwischen 20 und 30 Prozent dazugehören. Diese Menschen kann man nicht alle isolieren. Die Separation vulnerabler Gruppen ist in Teilen möglich, zum Beispiel in Altenheimen. Aber das ist kein Konzept, das für alle Betroffenen umsetzbar wäre.

Wir sind schon acht Monate in der Pandemie. Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Erkenntnis über das Virus?

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass dieses Virus ein Chamäleon ist und in sehr unterschiedlicher Form auftreten kann. Damit meine ich nicht die Krankheitssymptome, die recht zuverlässig beschrieben sind. Ich meine, dass es bei manchen Personen sehr milde verlaufen kann, bei manchen deutlich schwerer und bei manchen eben tödlich.

Dass ein und derselbe Erreger unterschiedliche Verlaufsformen annehmen kann, ist zwar von anderen Viren auch bekannt. Aber so extrem ist der Einfluss der individuellen Disposition selten. Und das macht ja auch die Wahrnehmung der Gefahr in der Bevölkerung so schwer – dass die Einen es für eine Bagatellerkrankung halten und die Anderen für ein Killervirus. Dieses Virus ist tatsächlich beides.

Wie gut kennen wir das Virus inzwischen auf einer Skala von eins bis zehn?

Wir haben in der kurzen Zeit zwar schon enorm viel über das Virus gelernt, aber ich bin mir sicher, dass wir noch ganz vieles nicht wissen. Also sind wir vielleicht bei vier oder fünf. Aber da sind noch viele Wissenslücken zu schließen. Die aktuelle Forschung konzentriert sich sehr auf einzelne Aspekte – vor allem das Spike-Protein, das den wichtigsten Rezeptor bildet, mit dem das Virus in die ACE2-Zellen ein. Dabei wird aber leicht vergessen, dass das Virus noch sehr viele andere Funktionen hat, die für seine Biologie und Pathogenese sicher wichtig sind, die wir bisher aber völlig ignorieren.