Marcel Bergelt versteht die Welt nicht mehr. Der Student aus Überlingen freute sich wie ein kleines Kind über den vielen Schnee im Januar: endlich wieder Skifahren, und das sogar vor der eigenen Haustüre in Überlingen. Doch endete seine Skitour unschön mit einem Verwarnungsgeld der Stadt Überlingen über 55 Euro. Ihm wird zur Last gelegt, sich auf der Piste mit zwei anderen Skifahrern getroffen zu haben, und dabei hätten sie den nötigen Corona-Abstand von 1,50 Metern nicht eingehalten.

Das könnte Sie auch interessieren

Was war geschehen?

Marcel Bergelt war auf der Überlinger Luisenhöhe alleine unterwegs, er spurte sich eine Slalomstrecke. Zwei weitere Skifahrer aus Überlingen, die auf der anderen Seite der Luisenhöhe mehrere Tiefschneeabfahrten unternahmen, wechselten in seine Spur. Aber jederzeit so, wie alle Beteiligten betonen, dass sie den Corona-Abstand wahrten.

Fotograf mit Teleobjektiv

Als vierter im Bunde beobachtete SÜDKURIER-Fotograf Jürgen Gundelsweiler das Geschehen. Er hielt mit Fotos und Video fest, wie die drei Männer durch den Schnee pflügten und mit den geschulterten Skiern wieder aufstiegen. Für seine Fotografien verwendete Gundelsweiler ein Teleobjektiv – hielt sich also auf Abstand.

Der folgende Zeitungsbericht zeigte dann ein Gruppenfoto der drei Männer. Bergelt und Gundelsweiler schildern die Entstehungsgeschichte: Erst seien sie auf Abstand in einer Reihe gestanden, dann wollte sie Gundelsweiler jedoch kurz so platzieren, dass die Überlinger Kulisse samt Münsterturm in seiner ganzen Schönheit im Hintergrund zu sehen ist.

Dieses Foto diente der Stadtverwaltung Überlingen als „Beweismittel“, um gegen die drei Männer auf dem Bild ein ...
Dieses Foto diente der Stadtverwaltung Überlingen als „Beweismittel“, um gegen die drei Männer auf dem Bild ein Bußgeldverfahren anzustrengen. Wenn man die übliche Länge eines Skistocks als Bemessungsgrundlage nimmt, kann man bei strenger Betrachtung zu dem Schluss kommen, dass sie knapp unter den 1,50 Metern Corona-Abstand zueinander standen. Marcel Bergelt (links) fragt sich: „Was passiert gerade in unserer Gesellschaft?“ | Bild: Jürgen Gundelsweiler

Dieser Schuss, betonen die Männer, war innerhalb weniger Sekunden im Kasten. In dieser kurzen Zeit seien sie eventuell etwas dichter beieinander gestanden. Wenn man ihren Abstand auf dem Foto anhand der bekannten Länge eines Skistocks auslotet, dürften sie zueinander eine Lücke von etwa 1,25 Meter gehabt haben, standen also 25 Zentimeter zu dicht aufeinander.

55 Euro für die Skifahrer, 50 für den Fotografen

25 Zentimeter für ein paar Sekunden bei einer zufälligen Begegnung an der frischen Luft – reicht das, um ein Ordnungswidrigkeitenverfahren in die Wege zu leiten? Aus Sicht der Stadtverwaltung von Überlingen ja. Das von ihr festgesetzte Verwarnungsgeld beläuft sich über 55 Euro für die Skifahrer und über 50 Euro für den Fotografen. Warum sie hier einen Unterschied von 5 Euro macht, verriet die Stadtverwaltung mit Verweis auf den Datenschutz bislang nicht.

Offenbar ist man im Rathaus der Ansicht, dass die Akteure milde davonkommen. „In Anbetracht der besonderen Umstände“, so die Formulierung im Bescheid, „wird die Geldbuße deutlich gesenkt.“ Bei einem Wert von maximal 55 Euro spricht man von einem Verwarnungsgeld, ab 60 Euro von einem Bußgeld.

Wie lautet der Vorwurf?

Auf Anfrage teilte die Stadt mit: „Den Beschuldigten werden Verstöße gegen das Ansammlungsverbot, Paragraph 9 der Coronaverordnung, und gegen das Abstandsgebot, Paragraph 2 Absatz 2 der Coronaverordnung, vorgeworfen.“ Weiter heißt es zur Begründung: „Im Bußgeldverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz, das heißt, das Ordnungsamt muss Ordnungswidrigkeiten bei Kenntnisnahme von Amts wegen nachgehen. In diesem konkreten Sachverhalt wurde das Ordnungsamt aufgrund der Kenntnisnahme des Artikels im Südkurier tätig.“

Debatte erst in der Leserbriefspalte

Schon vor der Eröffnung des Verfahrens durch die Stadtverwaltung wurde das Thema in Überlingen kontrovers diskutiert: Nach dem Bericht im SÜDKURIER unter der Überschrift „Drei Männer im Schnee“ wurden zwei Leserbriefe eingereicht und veröffentlicht. Leserin Brigitte Schreiner schreibt darin, dass sie es als „einen Schlag in die Magengrube“ empfunden habe, als sie das Foto mit den drei Männern sah, die den Abstand nicht gewahrt hätten, wo sich doch andere „tapfer“ an die Corona-Regeln hielten. Und Isabel Meyer schrieb in ihrem Leserbrief, „der Bericht haut dem Fass den Boden aus“. „Wie soll Otto-Normalbürger bei den Verordnungen noch durchblicken?“

Das könnte Sie auch interessieren

Der Bericht ist am 21. Januar erschienen, die Leserbriefe dazu am 26. und am 28. Januar. Interessanterweise tragen auch die von der Stadt eingeleiteten Verfahren das Datum 28. Januar.

Stadt betont: Zeitung wird nicht durchforstet

Stellt die Zeitung für das Ordnungsamt ein probates Mittel dar, um mögliche Verstöße gegen die Corona-Verordnung aufzuspüren? Wie die Pressestelle von Oberbürgermeister Jan Zeitler betont, „werden lokale Medien nicht auf der Suche nach Verstößen gegen die Corona-Verordnung durchsucht“. In diesem Fall habe sich der Sachverhalt „jedoch geradezu aufgedrängt“. Auf Nachfrage teilte die Pressestelle außerdem mit, dass das Ordnungsamt tätig werden „muss“, weil dies der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete.

Vorwurf gegen Fotografen zurückgezogen

Was die Rolle des Fotografen betrifft, der als Journalist unterwegs war und damit einer systemkritischen Tätigkeit nachging, kamen der Stadtverwaltung doch noch Zweifel. Gundelsweiler hatte sich über das Verwarnungsgeld beim Ordnungsamt beschwert – und bekam Recht. Denn in der Verwarnung gegen ihn ist das Zeitungsfoto als Beweismittel benannt worden, aus seiner Sicht ein zweifelhafter Versuch: Abgesehen davon, dass auf dem Bild nicht erkennbar war, ob der Fotograf vielleicht einen Mundschutz trug, fragte Gundelsweiler, wie das Ordnungsamt den Abstand zwischen ihm und den Personen bemessen haben will.

Fotograf Jürgen Gundelsweiler hat das Foto für den SÜDKURIER gemacht.
Fotograf Jürgen Gundelsweiler hat das Foto für den SÜDKURIER gemacht. | Bild: Jürgen Gundelsweiler

Als Gundelsweiler dem Ordnungsamt erklärte, dass er sein Foto nur mit Teleobjektiv erstellen konnte, um so eine Perspektive mit Münsterturm und Überlingen-Kulisse zu erzielen, stellte die Stadt das Verfahren gegen ihn ein.

Bei den drei anderen Männern bleibt es jedoch beim Verwarnungsgeld von jeweils 55 Euro. Bergelt kommentiert das mit der Frage: „Was passiert gerade in unserer Gesellschaft?“ Nach seiner Beobachtung schlägt die Coronakrise den Leuten immer mehr aufs Gemüt. Bergelt: „Wo ist der Zusammenhalt in der schwierigen Zeit?“