Verschiedene Krankenkassen verlangen von Rentnern für Bezüge aus der Schweiz offenbar bis heute zu hohe Beiträge. Bereits im November 2016 hat das Bundessozialgericht in einem Urteil zwar klargestellt, dass Krankenkassen für Zahlungen aus Pensionskassen der beruflichen Vorsorge keine höheren Sätze erheben dürfen als für Renten aus der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).
Dennoch handhaben dies manche Krankenkassen bei Bestandskunden weiterhin anders und zahlen zuviel erhobene Beiträge auch nicht zurück. „Aufgrund fehlender maschineller Auswertungsmöglichkeiten“, so die Begründung. Verbraucherschützer sehen in dieser Praxis einen bewussten Rechtsbruch und raten allen Beziehern von Schweizer Renten, ihre Beitragsbescheide umgehend zu prüfen und gegebenenfalls Widerspruch einzulegen.
Möglicherweise zehntausende Betroffene
Betroffen sind Tausende wenn nicht Zehntausende Ruheständler. Nach Auskunft des Schweizer Bundesamtes für Sozialversicherungen erhalten über 126 000 in Deutschland lebende Ruheständler monatlich insgesamt 45 Millionen Franken AHV-Rente ausbezahlt.
Zweite Säule im Schweizer Rentensystem sind laut Beruflichem Vorsorgegesetz (BVG) die Pensionskassen. Altersbezüge daraus seien nicht als gesetzliche Rente sondern als privater Versorgungsbezug anzusehen, hatten deutsche Krankenkassen 2011 bei der Einführung der Beitragspflicht für ausländischen Renten argumentiert.
Auf Bezüge aus Pensionskassen erhoben sie deshalb den vollen Beitragssatz statt des für Renten vorgesehenen halben. Wie viele BVG-Bezieher 2011 bis 2016 davon betroffen waren und teilweise bis heute betroffen sind, ist ebenso unklar, wie die Summe der zugrundegelegten ausbezahlten Leistungen.
Weder die Schweiz noch Deutschland erheben diese Angaben statistisch. In der Schweiz selbst betrugen 2013 die Auszahlungen nach BVG etwa zwei Drittel der nach AHV ausbezahlten Leistungen. Legt man diese Zahl zugrunde, dann könnten die Krankenkassen 2011 bis 2016 von ihren Beitragsszahlern etwa drei Millionen Euro zu viel kassiert haben – jeden Monat.
So machte ein abgezockter Rentner den Fall öffentlich
Auf den Skandal hingewiesen hat als selbst Betroffener Klaus Graß (68). Der Niederhöfer ist seit Sommer 2015 im Ruhestand. Wie viele andere Menschen am Hochrhein erhält er neben seiner deutschen Rente auch Altersruhebezüge aus der Schwe
iz, wo er 15 Jahre beschäftigt war. Nach Eintritt in den Ruhestand war Graß Kunde zweier Krankenversicherungen, die ihm beide zu hohe Beiträge berechneten. Erst auf Reklamation hin hat er die zu viel bezahlten Beiträge erstattet bekommen.

„Ich habe 2015 von der Techniker Kasse eine entsprechende Mitteilung erhalten, dass ich für meine BVG-Rente, auch zweite Säule genannt, den doppelten Beitragssatz bezahlen muss, weil es sich nicht um eine Rente, sondern eine Pensionszahlung handele“, erinnert sich Graß. „Das habe ich erst einmal geglaubt.“
Im September 2017 habe er die Krankenkasse gewechselt. Aber auch bei der neuen Versicherung, der BKK Scheufelen, wurde sofort der Beitrag für die BVG-Rente mit dem erhöhten Satz berechnet. Gespräche mit anderen Betroffenen hätten ihn skeptisch gemacht, ob diese Handhabe in Ordnung sei.
Ein Nachbar berichtete Graß schließlich, dass er bei der AOK, nach Reklamation, nur noch den normalen Beitragssatz bezahlen müsse und sogar Geld zurückbekommen habe. Eine Suche im Internet bestätigte die Aussage des Nachbarn.
Telefonische Reklamationen bei seiner aktuellen und vorherigen Krankenkasse waren erfolgreich. Graß: „Ich hatte nach vier Tagen neue Beitragsbescheide. Auch die Rückzahlungen der zuviel geleisteten Beiträge hat problemlos funktioniert.“
Insofern sei der Fall für ihn persönlich glimpflich ausgegangen. Doch Klaus Graß ist überzeugt: „Es gibt viele wie mich, die von derartigen Zuvielzahlungen betroffen sind.“
Lege man aktuelle Grenzgängerzahlen zugrunde, gebe es am Hochrhein zwischen Konstanz und Lörrach Zehntausende Menschen, die überhöhte Beiträge bezahlen, rechnet Graß vor: „Pro Person geht es da bestimmt schnell um ein paar Hundert Euro, die monatlich zu viel bezahlt werden – und das in allen Fällen bis zum Lebensende!“ Dafür hat Graß seine eigene Wortwendung: „ungesetzliche Krankenkassen“.
Krankenkassen: „Können nicht feststellen, wer Rente aus der Schweiz bezieht“
Hätte Graß sich nicht von selbst an seine Krankenkasse gewandt, er würde noch heute jeden Monat 50 Euro zu viel Beitrag zahlen. Sowohl seine jetzige als auch seine vormalige Krankenkasse erklärten unserer Zeitung, sie hätten keine Möglichkeit festzustellen, welche ihrer bisherigen Versicherten einen Rentenbezug nach dem Schweizer BVG erhalten.
„Durch Datenschutzrichtlinien sind wir angehalten, nur für die Geschäftsprozesse zwingend notwendige Informationen zu speichern“, erklärt die Techniker Krankenkasse Baden-Württemberg. Es werde zwar festgehalten, wenn eine ausländische Rente bezogen wird. Es werde aber nicht gespeichert, aus welchem Land und in welcher Währung. Erst ab Mai 2017 seien die Beiträge für BVG-Bezügen bei Neuversicherten sowie bei Altversicherten, die dies beantragten hätten, auf den ermäßigten Satz umgestellt worden. Ähnlich äußert sich die BKK Scheufelen.
Mehr noch. „Aufgrund fehlender maschineller Auswertungsmöglichkeit“, so die BKK Scheufelen, sei es auch nicht möglich, bereits zu viel erhobene Beiträge automatisch an die Versicherten zurückzuerstatten. „Inländische Zahlstellen haben ein eindeutiges Zuordnungsmerkmal, die Zahlstellennummer. Eine solche eindeutige Zahlstellennummer gibt es bei ausländischen Zahlstellen nicht“, heißt es bei der BKK. Auch die Techniker-Kasse gibt an, „keine Möglichkeit zur maschinellen Selektierung von Sachverhalten mit einem Schweizer Rentenbezug“ zu haben. Die BKK Scheufelen berichtet von immerhin 33 Fällen, in denen Kunden zu viel entrichtete Beiträge zurückerhalten hätten – „unter Berücksichtigung der Verjährungsvorschriften“. Wie viel Geld an Beitragszahler zurückflossen,, können oder wollen die beiden Kassen nicht sagen.
Mehr Einblick in ihre eigenen Zahlen hat offensichtlich die AOK Hochrhein Bodensee. Deren Bezirksdirektion erklärt, dass etwa acht Prozent ihrer Versicherten eine Altersrente aus der Schweiz bezögen, es handele sich um etwa 3000 Personen. Diese hätten aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts 7,8 Millionen Euro zurückerstattet bekommen, dies sind durchschnittlich 2600 Euro pro Betroffenem. Weil der Gesetzgeber vorschreibe, dass Beitragsrückerstattungen nur auf Antrag gemacht werden dürften, seien alle betroffenen Kiunden angeschrieben und auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht worden, erklärt die AOK. Dem Schreiben sei auch ein Antrag auf Rückerstattung beigefügt worden. Insgesamt seien 99 Prozent der zu viel überwiesenen Beiträge zurückgezahlt worden.
Der rechtliche Rahmen: So urteilt das Bundessozialgericht
Eindeutig ist die juristische Bewertung der Schweizer Rentenzahlungen erst seit wenigen Jahren. Zuvor waren viele Punkte ungeklärt, etwa auch die Einstufung der beiden Renten-Säulen. Inzwischen gibt es zahlreiche eindeutige Urteile der Sozialgerichte aller Instanzen, dass die Praxis, die zweite Säule des Schweizer Rentensystems als Pensionszahlung einzustufen, unrechtmäßig ist.
Das Bundessozialgericht hebt in seinem Urteil vom 30. November 2016 (B 12 KR 22/14R) hervor, aus dem Beruflichen Vorsorgegesetz „nicht als Versorgungsbezug, sondern als vergleichbare Rente aus dem Ausland im Sinne von Paragraf 228 SGB V zu verbeitragen“ seeni. Denn: „Eine hinreichende Sicherung des Lebensunterhalts ergebe sich erst aus dem Zusammenwirken von Erster und Zweiter Säule.“
Verbraucherzentrale: „Eindeutig unrechtmäßige Beitragspraxis“
„Die gerichtlichen Entscheidungen sind eindeutig und es ist nicht nachvollziehbar, warum die Beitragsberechnung in der Praxis anders gehandhabt werden sollte“, heißt es seitens der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg auf Nachfrage unserer Zeitung. Die vollzogene Praxis sei „eindeutig unrechtmäßig“: „Es ist zu erwarten, dass die Rechtssprechung bekannt ist. Wenn sie nicht angewandt wird, ist der Weg zum Rechtsmissbrauch nicht weit“, sagt der Versicherungsexperte der Verbraucherzentrale, Peter Grieble. Auch er geht von einer hohen Zahl von Betroffenen aus. Allerdings sei erst eine Beschwerde bei der Verbraucherzentrale eingegangen.
Warum die geltende Rechtssprechung keinen Eingang in die Praxis findet – Erklärungen hierfür sind aus Expertensicht allenfalls spekulativ: Es könne durchaus sein, dass das Thema Grenzgänger bei den Krankenversicherern nicht mit dem nötigen Stellenwert behandelt werde.
Grund könne etwa sein, dass die Zentrale in einer Region liege, in der es wenige oder gar keine Grenzgänger gebe. Es könne aber auch sein, dass sich die Urteile noch nicht überall herumgesprochen haben. „Oder man wartet einfach, dass die Leute von sich aus tätig werden und ihr Recht einfordern.
Denn Beitragsrückzahlungen sind nur innerhalb von vier Jahren möglich. Danach verfallen die Ansprüche.“ Griebles Rat an alle, die Schweizer Rente beziehen, lautet dshalb: „Kontrollieren Sie ihre Unterlagen, überprüfen Sie Ihre Beitragsbescheide und setzen Sie sich umgehend mit ihrer Krankenversicherung in Verbindung, wenn Sie Grund zu zweifeln haben.“