Inge Fischer aus Hohentengen schaut erfüllt auf mehr als vier Jahrzehnte in Tätigkeitsfeldern der Pflege zurück. Sie arbeitete in der Praxis in der Leitung sowie in der Lehre. „Der Beruf war nie einfach und wird immer anspruchsvoller“, sagt sie. Die Menschen müssen gewaschen, gefüttert und getröstet werden, beschreibt sie Situationen aus dem Berufsalltag. „Der Auftrag, Menschen zu pflegen, hat Seiten, die nicht per se verbessert werden können“, meint Fischer. Das liege in der Natur der Sache und genau darin ein Problem.
40 Jahre in der Pflege
„Der Pflegeberuf ist davon betroffen, dass er in Situationen stattfindet, von denen Menschen denken: hoffentlich trifft es mich nicht“, sagt Fischer. Die Konsequenz: der Berufsstand gerät mehrheitlich in Vergessenheit.
1976 begann Fischer ihre Ausbildung zur Krankenschwester im fränkischen Hof. Wenn sie spricht, klingt ihre fränkische Herkunft mit. Mit Neujahr 2022 ist die 64-Jährige in den Ruhestand übergegangen – zumindest fast. Mehr als 40 Jahre beschäftigt sie die Krankenpflege. Präsens – denn sie tut es immer noch. Aus diesem großen Erfahrungsfundus hat sie Gründe für die heute schlechten Bedingungen des Pflegeberufs ausfindig gemacht, wie sie sagt. Ihre Erklärung holt weit aus:
Kurze Verweildauern überlasten
In den 70er-Jahren etwa entstanden Intensivstationen und mit ihnen wurden Pflegekräfte gebunden, die nun an anderer Stelle fehlten. Durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens wie die Fallpauschale „musste in kürzerer Zeit mehr geleistet werden“, sagt Fischer. Zumal auch die Fallzahl zunahm: Laut Statistischem Landesamt Baden-Württemberg wurden 1990 landesweit etwa 1,6 Millionen Patienten in 317 Krankenhäusern versorgt. 2019 waren es etwa 2,14 Millionen in 250 Krankenhäusern. Die Anzahl der Pflegekräfte blieb in diesem Zeitraum nahezu unverändert, verzeichnet seitdem aber einen Zuwachs.

Die kürzeren Verweildauern sowie die ambulanten Operationen erhöhten die Arbeitsdichte, schildert sie.
Das bestätigt auch Hans-Peter Schlaudt, Geschäftsführer des Klinikums Hochrhein in Waldshut: „Grundsätzlich wollen die Kliniken kein unnötiges Verweilen, zu hoch ist der Zustrom neuer Patienten, die wir zeitweise nicht aufnehmen können, weil uns das Fachpersonal fehlt. Jeder neue Patient und jede Entlassung erzeugen einen hohen administrativen Aufwand“, erklärt er.
Das Problem mit den Leiharbeitsfirmen
Weiter lastet die erfahrene Pflegerin der Ökonomisierung kurzfristige Lösungen an. Wo Personalmangel herrscht, wird auch auf Leiharbeitsfirmen zurückgegriffen. Dadurch entstünde ein Konkurrenzfeld für Pfleger: Aufgrund ihres variablen Einsatzortes und ihrer flexiblen Arbeitszeit würden sie höher entlohnt, als festangestellte Kräfte. Auch das bestätigt Klinikleiter Schlaudt: „So gut wie keine Klinik kommt heute ohne Arbeitnehmerüberlassungskräfte aus – so auch unser Haus.“ Weiter führt er aus, die Refinanzierung durch die Krankenkasse wird nur etwa zur Hälfte, bis zum vergleichbaren Tariflohn getragen.

„Vor allem aber ist die Ökonomisierung des Gesundheitswesens mitverantwortlich, dass Personal reduziert wurde“, so Fischer. Einem realistischen Personalbedarf Rechnung zu tragen, wurde mit dem finanziellen Druck der Krankenhäuser unmöglich, so ihre Einschätzung.
Wann hat man genug getan?
Die kürzeren Verweildauern sowie das wechselnde Personal verhindern zudem die Bindung zum Patienten. Denn unabhängig von allen Personalengpässen gibt es für Fischer vor allem eine elementare Frage: „Wann hat man genug getan?“ – diese Frage müsse jede Generation von Pflegekräften klären. Denn sie beantwortet, was zum Wohl der Patienten unbedingt getan werden muss. „Diese internen Faktoren kann die Politik nicht lösen“, meint Fischer, das müsse die jeweilige Einrichtung selbst schaffen.
Potenzial für die Pflege?
In der Hoffnung, mehr Fachkräfte auszubilden, wurde die generalisierte Pflegeausbildung eingeführt. Doch bisher bleiben die Anmeldungen aus. Auch das zeigen Angaben des Statistischen Landesamtes. Und selbst, wenn mehr Menschen Pfleger sein wollten, fürchtet Fischer, die Akademisierung des Berufes führe zukünftige Kräfte eher in die Bereiche Management, Pflegewissenschaft und Pädagogik als an die Pflegebetten. Laut Schlaudt leidet durch die kombinierte Ausbildung die Qualität, zudem überfordere man die Auszubildenden. Dennoch sieht er in Bezug auf den akademischen Zugang auch Potenzial für den Beruf der Pflege, der bisher kaum unterschiedliche Karrierewege zuließ.
Vom Nächsten zum Kunden
All diese Faktoren haben letztlich verändert, was man unter Krankenpflege überhaupt versteht, findet Fischer. Dass sie ihre Ausbildung noch zur Schwester und nicht zur Pflegekraft absolvierte, hängt für sie mit der Säkularisierung des Berufs zusammen. Sie selbst ist gläubige Christin und sieht den Ursprung des Berufs genau dort, bei den helfenden, christlichen Gemeinschaften. „Statt den Menschen als Nächsten zu dienen, wie es das christliche Selbstverständnis wäre, werden die Patienten heute als Kunden gepflegt“, beschreibt sie. Für sie verwandelte sich dadurch das berufliche Selbstverständnis. Sinngemäß: Als Nächster ist der Patient ein Besonderer, als Kunde nur einer von Vielen.
Einmal Pflegerin, immer Pflegerin
Ihr Pflege-Selbstverständnis lebt sie weiter und setzt bei ihren Nächsten an: An ihrer Treppe hat sie einen Treppenlift angebracht. Pro forma, falls ihre 92-jährige Mutter pflegebedürftig wird.

„Ob meine Mutter wirklich hierher ziehen würde, das weiß ich nicht. Sie entscheidet“, sagt Fischer. Wichtig war ihr vor allem, zu vermitteln, dass ihre Mutter bei ihr einen Platz findet. Als ehrenamtlicher Besuchsdienst, als Grüne Dame im Waldshuter Krankenhaus, besucht sie nun regelmäßig pflegebedürftige Menschen und macht das, was sie am besten kann.
Nicht zuletzt muss die Öffentlichkeit den Wert der Pflege erkennen, sagt Fischer. Nur dann kann die Unvermeidbarkeit der Pflege wahrgenommen werden. „Der Dienst am Menschen ist notwendiger denn je“, sagt sie.