Seit wann sie wieder lachen kann, weiß Manuela Walter nicht mehr so genau. Ein paar Wochen seien schon ins Land gegangen. „Ich bin ja von Natur aus ein fröhlicher Mensch“, sagt sie. Wie zum Beweis lächelt sie und fragt Melanie Breyer, die neben ihr auf der Parkbank im Litzelstetter Park Dorfwiesen sitzt: „Stimmt doch, oder Melle?“ Melles Nicken ist Zustimmung genug.
An diesem herrlichen Karfreitag Vormittag treffen sich die beiden Frauen und reden über Kathrin Walter. Es gibt viel zu erzählen. Mutter Manuela Walter und Freundin Melanie Breyer lachen gemeinsam, sie weinen gemeinsam und sie erinnern sich gemeinsam.
„Das tut uns Eltern so gut“, sagt Manuela Walter irgendwann. „Meine Kathrin hatte so tolle Menschen um sich herum. Das hilft uns heute ungemein.“ Kathrin Walter starb am 16. Dezember 2014 im Alter von 18 Jahren. Am kommenden Ostersonntag hätte sie ihren 25. Geburtstag gefeiert.

Seit sieben Jahren treffen sich Familie und Freunde zweimal pro Jahr am Grab: jeweils am 4. April und am 16. Dezember, am Geburtstag und am Todestag. „Wir bauen dann eine Stange auf, an der wir Ballons aufhängen“, erzählt Manuela Walter und man spürt, dass sie das tief bewegt, aber ihr auch ein gutes Gefühl vermittelt.

„Wir hören dann Kathrins Musik. Ich begrüße alle und rede mit meiner Tochter.“ Wer etwas sagen möchte, darf dies gerne tun. Aber auch das Schweigen in der Gruppe vermittelt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Irgendwann schließlich hängen die Gäste zuvor verfasste Brief an einen Ballon und lassen ihn fliegen.
„Ich schreibe Kathii meine liebsten Geburtstagswünsche und alles, was es Neues gibt“, berichtet Melanie Breyer. Kathii, die sie stets mit zwei i geschrieben hat, „weil sie etwas ganz Besonderes war“, war zu Lebzeiten eine ihrer treuen Begleiterinnen – und auch heute noch.
„Sie ist immer bei mir und wird immer bei mir sein“, sagt die 22-Jährige. „Es gab nichts an ihr, was mich gestört hätte. Wirklich nichts.“
Seitdem die Pandemie Deutschland und die Welt im Griff hat, darf dieses lieb gewonnene Ritual, das allen Beteiligten so viel Kraft gibt, in der gewohnten Form nicht stattfinden. „Es geht halt leider nicht“, sagt Manuela Walter. „Aber es schmerzt, dass wir das nicht durchführen dürfen. Seit dem 16. Dezember 2019 haben wir uns alle nicht mehr gemeinsam gesehen.“
Am Ostersonntag, dem Geburtstag der Tochter, möchte sie trotzdem jedem die Möglichkeit geben, einen Ballon mit Wünschen und Grüßen gen Himmel steigen zu lassen.
„Wir werden die wie gewohnt an einer Stange befestigen und dann kann jeder im Laufe des Tages vorbeikommen, sich einen nehmen und fliegen lassen.“ Sie selbst wird mit ihrem Mann um 19.11 Uhr dieses Ritual pflegen – um diese Uhrzeit erblickte Kathrin 1996 das Licht der Welt.

Melanie will schon am Vormittag zum Grab gehen und mit der Freundin reden. „Ich bin mir sicher, dass sie uns hört.“

Das Leiden der Kathrin Walter begann im Frühjahr 2009. Damals wohnte die Familie noch in Allmannsdorf. „Ich habe sie für den Fußballverein angemeldet“, erinnert sich die Mutter an jene schicksalshaften Monate. In einer Trainingseinheit bekam sie den Ball ans Knie.
„Das war abends total geschwollen und bereitetet ihr große Schmerzen“, so Manuela Walter. „Aber wie das nun mal so ist: Wie haben uns gesagt, dass das schon wieder weggeht.“
Ging es jedoch nicht. Die Schmerzen blieben, doch die Tochter beschwerte sich nie. „Irgendwann nach rund drei Wochen schaffte sie es in ihrer Schule im Zoffingen nicht mehr in das dritte Stockwerk in das Klassenzimmer.“
Die Mutter ging sofort mit ihr zum Arzt. Der gab zunächst Entwarnung, vereinbarte aber trotzdem einen MRT-Termin. Sicher ist sicher.
Am 24. April wurde aus dem Nerven zerreißendem Bangen bittere Gewissheit: Das Knie der Dreizehnjährigen war bereits vom Krebs angefressen. Die Eltern wollten die bestmögliche Behandlung für ihre Tochter und entschieden sich für Olga-Hospital in Stuttgart.
Die Überweisung durch das Klinikum Konstanz liest sich nüchtern: „Diagnose: Hochgradiger Verdacht auf Osteosarkom distaler Fermur rechts.“
Das Osteosarkom ist der häufigste bösartige Knochentumor, im Volksmund häufig, aber medizinisch nicht ganz korrekt als Knochenkrebs bezeichnet. Von einem Moment zum anderen änderte sich das Leben der Familie grundlegend.

Es folgten Operationen und Chemo-Therapien. „Mit allem, was dazu gehört: Haarausfall und ständigem Übelsein“, wie die Mutter erzählt. Im Krankenhaus hatten sie aber auch schöne Momente, wenn in einer solchen Situation überhaupt etwas schön sein kann: So kam Fritzle, das Krokodil-Maskottchen des VfB Stuttgart, regelmäßig zu Besuch auf die Kinderkrebsstation.
Unvergessen die Aktion Herzenswunsch, die die Klinik organisiert: Kathrin Walter wurde zum Skispringen nach Oberstdorf eingeladen – dort traf sie ihr Idol Gregor Schlierenzauer und verbrachte gemeinsam mit einer Freundin ein unvergessenes VIP-Wochenende im Allgäu.
„Das war ein unglaubliches Erlebnis für sie“, so die Mutter. „Die Leidenschaft für das Skispringen hatte sie von mir. Die Liebe zum FC Bayern von meinem Mann.“

Sie gingen 2010 gemeinsam in die Nachsorgeklinik Tannheim, um Kräfte für den weiteren Kampf zu sammeln. Im Schwarzwald holten sie auch Welpe Jacky. „Sie ist und war Kathrins Hund. Sie haben sich geliebt und waren ein Herz und eine Seele.“
Jacky ist auch heute noch eine liebevolle Verbindung zur Tochter. Wenn Manuela Walter mit der Hündin in Litzelstetten spazieren geht, ist sie ihrer Tochter ganz nahe.
Alle zwei Monate ging es fortan zur Untersuchung nach Stuttgart. Zwölfmal verliefen diese Untersuchungen positiv. Die Krankheit schien besiegt, auch wenn dies bei dieser bösartigen Art erst nach fünf Jahren ausgesprochen wird. „Kathrin feierte eine ‚Krebs ist weg‘-Party bei uns daheim. Das war ein lustiger Tag.“ Melanie Breyer lächelt während dieser Worte. „Ich erinnere mich noch gut. Wir waren alle so glücklich.“
Die nächste Untersuchung erschütterte das Leben aller Beteiligten erneut in ihren Grundfesten: Der Krebs war zurück und bildete bereits Metastasen in der Lunge. Eine Operation folgte – doch eine weitere Chemotherapie wollte sich das Mädchen nicht mehr antun. Es ging rapide bergab mit der Gesundheit der jungen Frau. Die Kräfte schwanden zusehends aus ihrem Körper. Und doch entwickelte sie nun große Kräfte.
„Als der Professor ihr erzählte, dass sie bald sterben würde, schrieb sie alle ihre Freunde an, lud sie zu uns ein und sagte, dass sie ihnen etwas mitteilen wolle“, erinnert sich die Mutter. „Ich dachte, dass sie wegziehen würde“, so Melanie Breyer. „Stattdessen verkündete sie uns allen in Einzelgesprächen, dass sie bald stirbt. Sie bat uns, nicht traurig zu sein.“
Die Familie ging auf Wunsch der Tochter noch einmal gemeinsam in den Urlaub nach Kroatien, in die Heimat von Manuelas Mutter, wo sich das Mädchen so gerne aufhielt. Nach wenigen Tagen mussten sie die Reise abbrechen, Kathrin konnte nicht mehr gehen oder stehen.
Die Eltern kümmerten sich in häuslicher Pflege um die Tochter. Als sie am 16. Dezember 2014, gegen 18 Uhr „auf ihre Reise ging“, wie es Manuela Walter ausdrückt, wachten die Eltern am Bett. „Ich habe ihr zugeflüstert: Kathrin, lass los. Wir sind bei Dir. Du hast den Kampf gewonnen.“
Ein Jahr später hüpfte Jacky um drei Uhr nachts ins Ehebett und weckte Manuela Walter. Sie nahm den Hund und blickte mit ihm durchs Fenster in den wolkenlosen Nachthimmel. „Ich sah dort ein von Sternen gebildetes Herz. Damit wollte mir Kathrin sagen, dass es ihr gut geht.“