Das Bild entsteht eher zufällig, aber es passt. Marcus Maria Gut, der seelsorgerische Leiter der katholischen Pfarrgemeinde Wollmatingen/Allensbach, macht einen entspannten Eindruck beim Gespräch über die Reaktionen zu seinem Coming Out. Ende Januar bekannte er sich in den Gottesdiensten in den Kirchen St. Martin und St. Gallus zu seiner Homosexualität, und auf die Besucher wirkt er ebenso authentisch wie souverän. Aber entspannt, nein, als entspannt erlebt man ihn damals nicht.

Zweieinhalb Monate später im Pfarrbüro St. Gallus. Marcus Maria Gut sitzt im grauen Pullunder und lila Hemd bei einer Tasse Kaffee in dem auffällig aufgeräumten Arbeitszimmer und berichtet so als hätte es ein Tabu nie gegeben. Die Fragen sind vorbereitet, aber sie müssen dem 55-Jährigen nicht gestellt werden.

Er zieht offen Bilanz über die kircheninternen Reaktionen und wie sich Gemeindemitglieder zu seinem Bekenntnis äußerten, er thematisiert komplexe Zusammenhänge wie etwa das jahrelange zölibatäre Zusammenleben mit seinem Mitbruder, und weil das alles ganz normal ist, hat er zwischendurch den ein oder anderen Scherz auf Lager.

Immer dann, wenn‘s lustig wird, fällt der Blick zwanghaft auf die zwei Figuren im Hintergrund. Genau lassen sie sich nicht identifizieren, doch sie müssen der Großfamilie aus der Sesamstraße entlehnt sein. Die beiden Witzbolde erscheinen wie die stummen Zeugen eines sich neu herausbildenden Selbstverständnisses der katholischen Kirche.

Pfarrer Marcus Maria Gut ist zweieinhalb Monate nach seinem Coming Out befreit wie nie zuvor. Die beiden stummen Scherzbolde in der ...
Pfarrer Marcus Maria Gut ist zweieinhalb Monate nach seinem Coming Out befreit wie nie zuvor. Die beiden stummen Scherzbolde in der Kulisse sorgen beim Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteur Torsten Lucht für eine komische Note. | Bild: Hanser, Oliver

Vielleicht wegen dieser Komik gleicht die Geschichte des Priesters zweieinhalb Monate nach seinem Coming Out einer österlichen Auferstehung. Dem Mann wurde die Last eines schweren Kreuzes genommen, nun hängt Marcus Maria Gut das hölzerne Kruzifix der Kirche lässig am Hals.

Ja, er fühlt sich sehr gut. Die Offenbarung seiner Homosexualität, sagt er, hat ihm Redefreiheit beschert. Die Unmittelbarkeit dieses Geschenk hat auch damit zu tun, dass der Geistliche „zu 99,9 Prozent einfach nur klasse Reaktionen“ bekommen hat.

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Einige Gespräche sind ihm als besonders bewegend im Gedächtnis. Eine ältere Frau beispielsweise bringt ihr Glück und ihre Dankbarkeit gegenüber Marcus Maria Gut zum Ausdruck, weil ihr Sohn unter der exakt gleichen Zerrissenheit zu kämpfen hatte. Jetzt sei er erleichtert.

Überrascht ist der Seelsorger auch von der Kontaktaufnahme eines früheren Ministranten, der seinen Respekt mit einer Spur von Bitterkeit versieht. Ihm wäre geholfen gewesen, sagt der frühere Schüler, wenn er schon damals von der sexuellen Veranlagung des Seelsorgers gewusst hätte. Es ist ein Hinweis, den der Priester als Auftrag übernimmt. „Ich will den Menschen die Angst nehmen“, sagt er, „weil nichts falsch am Queer-Sein ist.“

„Du bist doch mein Sohn!“

Offenkundig wird die falsche Scham für Marcus Maria Gut auch im familiären Umfeld. Seine Mutter weiß bis zu seinen Bekenntnissen in den Gottesdiensten im Januar nichts von dem queeren Geheimnis des Sohnes, und als er sich der 91-Jährigen endlich öffnet, reagiert sie wie es Mütter eben so tun. „Du bist doch mein Sohn“, sagt sie. Es ist ein universeller Grundsatz, der nur in extremen Fällen außer Kraft gesetzt wird. Schwulsein gehört nicht dazu.

Und die Kirche? Der Seelsorger fühlt sich vom Bistum mitgetragen, und die neue Normalität lässt sich in Zahlen messen. Marcus Maria Gut berichtet vom Anwachsen der Unterstützung von Gruppen wie „Out of Church“ oder „Kirche ohne Angst“.

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Dass sein Fall bei der diplomatischen Vertretung des Heiligen Stuhls in Berlin landete, wertet er als Randnotiz. Die apostolische Nuntiatur habe das aus kirchenrechtlichen Gründen tun müssen, weil bei ihr der Hinweis einging, dass in St. Gallus „Sodom und Gomorrha“ herrsche. „Solche Probleme“, sagt der Seelsorger, „entstehen in den Phantasien der Menschen.“ Mit der Realität habe das nichts zu tun.

Fürbitten der „überfrommen“ Art

Es ist nicht der einzige Irrwitz an der Geschichte. Zu den 0,1 Prozent der kritischen Reaktionen zum Coming Out von Marcus Maria Gut zählt eine ihm von Glaubensmitgliedern versprochene Fürbitte, die in einem mittelalterlich verstandenen Kirchenchristentum wurzelt. Man wolle für den verirrten Glaubensbruder beten, auf dass er auf den rechten Weg zurückfinde – was der Geistliche schmunzelnd als „überfromm“ einstuft.

Und über den Ratschlag in einer Zuschrift, er solle sich in Italien bei fachkundigen Exerzitien das queere Sein austreiben lassen, geht Marcus Maria Gut scherzhaft hinweg. „Auf so etwas reagiere ich erst gar nicht“, sagt er. Die Kulisse in seinem Rücken – sie passt auch hier.