Long-Covid – das steht für Corona-Spätfolgen, die Menschen mit einer überstandenen Infektion auch nach leichten Verläufen noch Monate begleiten. Die Wissenschaft untersucht das neue Phänomen derzeit – und es scheint groß zu sein: Wissenschaftler der Uniklinik Köln etwa gehen davon aus, dass zehn Prozent der ambulanten Patienten sechs Monate nach ihrer Infektion unter Symptomen leiden.

Therapie in Konstanz und Allensbach

In Konstanz und Allensbach gibt es bereits eine Long-Covid-Therapie. Wir sprachen mit dem Ärztlichen Leiter, Professor Michael Jöbges.

Prof. Michael Jöbges, ärztlicher Leiter der Kliniken Schmieder Konstanz.
Prof. Michael Jöbges, ärztlicher Leiter der Kliniken Schmieder Konstanz. | Bild: Scherrer, Aurelia

Südkurier: Herr Professor Jöbges, seit einigen Monate bieten Sie in den Kliniken Schmieder eine Rehabilitation für Menschen an, die Corona überstanden haben. Wie entwickelt man ein Behandlungsprogramm für die Folgen einer Krankheit, die es noch gar nicht lange gibt?

Michael Jöbges: Wir behandeln hier in den Kliniken Schmieder schon lange Patienten mit einem besonderen Symptom der Multiplen Sklerose: der vorzeitigen Ermüdung und Erschöpfung, genannt Fatigue. Der Leiter unserer Neurorehabilitation, Christian Dettmers, ist eine Koryphäe auf dem Gebiet. Sie fragen sich sicher, warum ich von Multipler Sklerose spreche, obwohl es doch um Corona-Folgen gehen soll. Der Grund ist, dass es Gemeinsamkeiten gibt. Jeder Dritte, der Covid-19 hatte, beklagt Symptome über längere Zeit. Das wissen wir durch Studien. Und nach dem Verlust des Geschmacksinns ist das häufigste Symptom: Fatigue, vorzeitige Ermüdung. So war für uns klar, dass wir uns dem zuwenden.

Das könnte Sie auch interessieren

Ist das Zufall oder sind sich die Folgen von Covid-19 und die Krankheit Multiple Sklerose ähnlich?

In gewisser Weise. Bei Multipler Sklerose greift der Körper sich selbst an: Das Abwehrsystem kämpft im zentralen Nervensystem, also im Hirn, gegen sich selbst. Ähnlich reagiert das körpereigene Abwehrsystem auch bei Covid-19 über – und greift nicht nur befallene, kranke, sondern auch gesunde Zellen an. Die schwersten Hirnschäden kommen, weil sich Teile des Gehirns als Reaktion auf den Virus entzündet haben. Dieses Übergreifen auf gesunde Zellen ist auch in der Lunge so, deshalb ist die Krankheit so gefährlich. Und Long-Covid ist die Krankheit nach der Krankheit.

Welche Symptome hat jemand mit Long-Covid?

Das ist sehr individuell. Sie dürfen sich das nicht vorstellen wie bei einem gebrochenen Bein. Long-Covid ist viel komplexer. Die häufigsten Symptome sind Verlust des Geschmacksinns und die Ermüdung. Manche haben Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisprobleme, einige sind depressiv. Mit 70 bis 80 Prozent der Patienten machen wir motorisches Ausdauertraining, außerdem Aufmerksamkeitstraining. Dazu die psychodynamischen Aspekte. Wir haben hier bisher einige Dutzend Personen mit Long-Covid behandelt. Die Therapie ist sehr dynamisch und offen für Weiterentwicklungen, immer individuell auf den jeweiligen Patienten abgestimmt.

Das könnte Sie auch interessieren

Was hat es mit der Ermüdung, der Fatigue, auf sich?

Während der fehlende Geschmacksinn Menschen nicht berufsunfähig macht, kann das die Fatigue sehr wohl. Das sind unfassbare Zahlen, die auf uns zurollen, die Berufsgenossenschaften warnen schon! Und interessanterweise sind gar nicht nur diejenigen mit schweren Covid-19-Verläufen betroffen, sondern auch diejenigen, die nach ein oder zwei Wochen zu Hause zurück im Job waren. Und dann merkten: ‚Oh, ich bin nicht der Alte, ich bin viel müder und erschöpfter.‘

Auf dem Bild ist ein hpcosmos-Laufband zu sehen: Damit wird die Handhabung und die Qualität des Gangtrainings für Therapeuten und ...
Auf dem Bild ist ein hpcosmos-Laufband zu sehen: Damit wird die Handhabung und die Qualität des Gangtrainings für Therapeuten und Patienten deutlich vereinfacht. Nach einer schweren Covid Erkrankung mit einem Aufenthalt auf der Intensivstation muss die Belastbarkeit und Mobilität wieder aufgebaut werden. Hier unterstützt das Training auf dem Laufband mit Abnahme des Körpergewichts. Die Aufhängung ist so optimiert, dass ein physiologischeres Gangbild erreicht werden kann. | Bild: Kliniken Schmieder

Die Mehrheit beißt die Zähne zusammen, hofft, dass das Symptom verschwindet. Dann merken sie, dass das Gegenteil eintritt: Sie werden noch müder, noch erschöpfter. Bis gar nichts mehr geht. Selbst die einfachsten Dinge fallen ihnen zu Hause schwer. So, dass sie zum Beispiel maximal morgens drei Stunden aktiv sind – und vielleicht nachmittags noch eine Stunde. Die meisten sind zu nichts in der Lage, liegen die meiste Zeit im Bett.

Das könnte Sie auch interessieren

Was kann man tun?

Ich als Rehabilitationsarzt sage natürlich: ‚Viel früher in die Reha kommen.‘ Die Patienten, die uns aufsuchen, und die Kranken der ersten Welle vor über einem Jahr. Vor Kurzem hatten wir einen Patienten, der im März 2020 Corona hatte, sich bis Juni zur Arbeit schleppte und seither krankgeschrieben war. Die Symptome sind dann schon chronisch.

Viele sagen: ‚Ich lasse mich eine Woche krankschreiben, dann wird es schon wieder.‘ Aber es wird in den meisten Fällen eben nicht wieder. Je länger man wartet, desto chronischer die Symptome, desto schwieriger die Rehabilitation. Das zeigt die Erfahrung. Deshalb ist es gut, dass das Bewusstsein für Long-Covid langsam anfängt, in die Bevölkerung zu dringen.

Wie lange dauert es, bis man nach einer chronischen Fatigue wieder die Alte ist?

Genau das fragen die Rehabilitanden mich zu Beginn. Und es taugt überhaupt nicht als Therapieziel! „Wieder der Alte werden“ – das ist viel zu hoch. Wenn ich eine chronische Krankheit habe, dann fahre ich nicht drei Wochen zur Reha und alles ist wieder wie vorher. Das dauert. Der Körper kann nur ganz langsam trainiert werden, neu lernen; die Erfolge von Tag zu Tag sind klein. Man muss am Ball bleiben und Körper und Geist viel Zeit einräumen. Ein Beispiel: Jemand kann nur noch drei Treppenstufen steigen. Wir bringen ihn gemeinsam dazu, ein Stockwerk zu schaffen. Und am Ende des Quartals sind es zwei.

Was wünschen Sie sich?

Dass Menschen mit Problemen nach einer Covid-19-Infektion viel früher Hilfe aufsuchen und zum Arzt gehen. Allgemein würde ich mir wünschen, dass Symptome wie die Fatigue sozial mehr Akzeptanz finden. Häufig kommen aus dem unmittelbaren Umfeld der Genesenen wenig empathische Rückmeldungen und Durchhalteparolen wie ‚Reiß dich mal zusammen!‘. Damit beraubt man die Menschen ihres sozialen Rückhalts, es entstehen Schuldgefühle und Angst. Besser wäre, man würde sie dabei unterstützen, sich Hilfe zu suchen.