
Es bleibt der Schmerz. Nicht nur die Füße haben nach fast 24 Stunden auf den Beinen Blessuren davongetragen. Auch das Gesicht tut weh. Es ist nichts Schlimmes passiert. Nur sind es meine Gesichtsmuskeln wohl nicht gewohnt, so viel zu lachen wie in diesen Stunden. Die Zeit bei den Narren war nicht nur interessant und lehrreich, sondern in erster Linie wahnsinnig lustig.

Jetzt wird klar, wieso Narrizella-Präsident Martin Schäuble für seine gute Laune bekannt ist. Von Mittwochabend mit dem Hemdglonkerumzug bis Donnerstagabend nach dem Narrenbaumstellen habe ich mich in die Hände der Narrizella Ratoldi begeben und durfte eine von ihnen sein.
Brauchtum lebt von den Menschen
Mit allem was dazugehört. So ein bisschen Fasnacht macht sich nicht von allein, das war mir auch klar. Brauchtum braucht eben auch Menschen, die es ausüben und organisieren, damit andere sich daran freuen können. Und von diesen Menschen gibt es in der Narrizella richtig viele.
Allein die Organisation hinter dem Hemdglonker-Umzug ist eine Mammutaufgabe. Doch Zunftschreiber Hansjörg Blender erledigt alles mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Bevor es zum Umzug geht, möchte er noch mit seiner Frau auf einen runden Geburtstag. Zwei Partys an einem Abend? Ziemlich viel, könnte man meinen. Hansjörg Blender winkt ab. Das passt schon. Man trifft sich einfach später auf dem Marktplatz zur großen Feier. Ansonsten wisse jeder, was zu tun ist.

Die Narrizella hat den Hemdglonker und die Veranstaltung danach mittlerweile wieder im Griff. Später am Abend sieht man hunderte friedlich und ausgelassen feiernde Jugendliche vor der Bühne. Der Auftritt der Narrenmusik kommt genauso gut an wie die beiden DJs, die aktuelle Chart-Hits auflegen. Auch Tradition braucht manchmal eine kleine Frischekur.
Kontrastprogramm beim Preis-Kleppern
Das Kontrastprogramm gibt es im Scheffelhof. Hier wird im weißen Narrenhemd gekleppert, was das Zeug hält.
In der Scheffel-Bar laden die Mitglieder der Garde für später ins Zunfthaus ein. Dass damit auch ein Arbeitsdienst verbunden ist, hat zu diesem Zeitpunkt niemand gesagt. Während sich also hunderte Narren bis tief in die Nacht ins Zunfthaus drängen, stehe ich hinter der Bar und schenke mit den Gardisten Bier und Weinschorle aus. Dass alle mithelfen, ist klar. Eifrig werden Kisten hin- und hergetragen und leere Flaschen entsorgt.
6 Uhr Antritt zum Wecken
Gardehuptmaa Daniel Hepfer ringt mir das Versprechen ab, morgen um 6 Uhr früh zum Wecken zu kommen. 6 Uhr ist nicht unbedingt meine Zeit. Als kleinen Anreiz stellt er in Aussicht, dass ich die große Kanone der Garde bedienen dürfte. Der zweite Mann neben Wolfgang Uhl sei verhindert. Ich könnte einspringen.
Nach einer viel zu kurzen Nacht treffe ich eine kleine Ansammlung Gardisten. Zumindest ein paar, die es wie ich aus dem Bett geschafft haben. Doch die, die da sind, haben schrecklich gute Laune. Das Aufstehen hat sich auch sonst gelohnt. Mit Fackeln, Feuerwerk und dieser Kanone durch die noch dunkle Stadt zu ziehen, hat etwas Magisches. Das Wecken wird laut. Die Nachbarn weckt man automatisch gleich mit. Und eine kleine Erfrischung gibt es als Dank für den morgendlichen Krach auch noch. Der Fanfarenzug hat sich noch etwas früher getroffen, um in den Außenbereichen der Stadt die Menschen für den Schmutzigen Dunschtig zu wecken. Es soll keiner diesen besonderen Tag verschlafen.
Während wir über den Marktplatz gehe, bauen die Holzhauer gerade ihren Materpfahl auf. Niemand in der Narrizella schläft offensichtlich am Schmutzigen Dunschtig aus. Das Zünden der Kanone ist wirklich der Höhepunkt des Schnupperpraktikums als Narrizella-Mitglied.

Doch muss ich die angestrebte Karriere als Kanonier der Garde an den Nagel hängen, noch bevor sie beginnen konnte: Die Garde nimmt nur Männer auf. Eine vorsichtige Anfrage später bei Gardist Siegfried Kromer, ob man das nicht ändern könnte, wird mit den Worten „So lange ich lebe, wird es das nicht geben“ quittiert. Schade eigentlich.

Nach Kindergartenbefreiung und Rathaussturm zieht die Narrenmusik Richtung Krankenhaus. Es ist gerade einmal Mittag und wir vergleichen unseren Schrittezähler im Smartphone. Ich 9000, Narrenmusik 13 000.
Am Vorabend hatte Volker Drews erklärt, dass seine neue Trommel aus Carbon gefertigt und somit leichter sei. Die mehrere Kilo schwere Tuba von Thomas Kaßner gibt es noch allerdings nicht in einer Carbon-Variante. Am Schmutzigen Dunschtig wird die Narrenmusik mehr als 22 000 Schritte zurückgelegt haben.

Im Krankenhaus ist davon nichts zu spüren. Überhaupt scheint an diesem Tag niemand in der Narrizella müde oder erschöpft zu sein. Sascha Hain und Thomas Bracht tragen klaglos trotz Frühlingssonne ihr prächtiges, aber sehr warmes Häs der Narreneltern – samt Perücke.

Und auch Narrenpräsident Martin Schäuble strahlt und lacht mit der Sonne um die Wette. Den Zeitplan hat er mehr oder weniger im Griff. Zur Not fährt eben das Taxi raus zur Mettnau-Kur.
Der Besuch aller wichtigen Institutionen der Stadt ist nicht nur Pflicht, sondern auch ein Bekenntnis. Die Narrizella sieht sich als Teil der Stadt. So prägend wie das Münster, so sinnstiftend wie die Kirchengemeinde. Fasnacht ist für alle mehr als nur ein Brauch.

„Wir gestalten das Stadtleben auf unsere Weise mit“, fasst Regula Brandt zusammen, kurz bevor die Holzhauergilde routiniert den Narrenbaum stellt. Sie ist Hansele und im Narrenrat tätig. Ohne die Narrizella würde Radolfzell ganz anders sein. Anders aussehen. Und da hat sie recht.