Jede Medaille hat immer zwei Seiten, und so auch jede Geschichte. Die betroffenen Familien, die seit Langem in Stahringen auf das geplante Baugebiet „Unterm Freiwiesle“ warten und hoffen, sehen ihre Situation bei dem Vorstoß der beiden Grünen-Landtagsabgeordneten Nese Erikli und Markus Rösler nicht berücksichtigt.
Erikli und Rösler, naturschutzpolitische Sprecher des Bündnisses 90/Die Grünen im Landtag, hatten angekündigt, die Streuobstwiese „Unterm Freiwiesle“ gemäß dem neuen Landesnaturschutzgesetz Paragraph 33a schützen zu lassen und die Genehmigung des Baugebietes erneut zur Prüfung zu geben. Ziel ist es, das Baugebiet noch zu verhindern. Theoretisch ist das möglich, denn der Bebauungsplan ist zwar fertig, aber noch nicht rechtskräftig.
Zwischen der rechtlichen Beurteilung, neuen Paragraphen und grünen Idealen fühlen sich junge Familien ungehört und unerwähnt. Diese warten seit vielen Jahren auf den dringend benötigten Wohnraum in Stahringen. „Wir haben kein Gesetz, das unsere Interessen schützt, wir sind auf die Unterstützung der von uns gewählten Vertreter angewiesen“, erklärt Monja Gessendorfer. Im Wahlkreis Konstanz-Radolfzell sei dies die neu gewählte Landtagsabgeordnete Nese Erikli.
Trotz guter Kontakte ist kein Bauplatz zu bekommen
Monja Gessendorfer ist, genauso wie ihre Eltern und Großeltern, in Stahringen aufgewachsen. Sie engagiert sich aktiv für die Dorfgemeinschaft. Selbst als bestens vernetzte Stahringerin habe sie keine Möglichkeit auf einen Platz in einer Baulücke im Dorf und sehe in dem geplanten Neubaugebiet ihre einzige Chance. Ihr Mann Uwe Gessendorfer empfindet den Vorstoß von Erikli und Rösler politisch motiviert: „Es scheint, als würden alle Umweltziele plötzlich auf Stahringen projiziert werden, obwohl in Radolfzell und Nachbargemeinden wesentlich größere Bauprojekte, wie zum Beispiel das Feriendorf im Streuhau, geplant werden.“
Die Liste der Bauinteressenten ist lang, aktuell sind es 56 Familien, die ihr Interesse an einem Bauplatz in Stahringen bekundet haben. Darunter auch die Familie Kißlinger/Uhrenbacher. Erika Kißlinger bringt es auf den Punkt: „Wir wollen bauen!“ Die Information über die erneute Prüfung des Baugebietes sei für sie ein Schlag ins Gesicht. Stahringen sei für die Fränkin und ihre Familie längst zur Heimat geworden.
„Wir leben seit sieben Jahren hier und sind mittlerweile in der Dorfgemeinschaft angekommen“, ergänzt Werner Uhrenbacher. Im Juli wollen sie im Rathaus heiraten. Ihr Antrag auf einen Bauplatz im Freiwiesle sei ebenso eine Lebensentscheidung, die man nicht einfach ändern könne. „Die Entwicklung des Bebauungsplans während der vergangenen zwölf Monate gab uns die Sicherheit, dass wir hier bleiben können“, sagt Erika Kißlinger.

Auch Franziska Schmid und Sven Weber haben die Entwicklung des Bebauungsplans seit Jahren verfolgt und waren bereits im September 2019 am Bürgerworkshop beteiligt. Beide sind in Stahringen aufgewachsen und aktive Mitglieder des Musikvereins. Auch sie wollen in diesem Sommer heiraten und möchten mit einem Bauplatz ihre Zukunft in Stahringen sichern.
„Stahringen ist unsere Heimat, hier möchten wir bleiben“, sagt Franziska Schmid. Der Vorstoß der grünen Landtagsabgeordneten sei für sie völlig überraschend gekommen. „Wir hätten uns gewünscht, dass man neben dem Schutz der Streuobstwiese auch das Wohl der Menschen berücksichtigt“, sagt Sven Weber.
Vor allem die Faktenlage sehen einige Stahringer in der Presseerklärung von Nese Erikli und Markus Rösler nicht korrekt wiedergegeben. „Es darf natürlich nicht sein, dass 40 Streuobstbäume auf der Basis falscher Annahmen über den Schutzstatus gerodet werden“, wird Erikli dort zitiert.
Die wertvollsten Bäume sollen erhalten bleiben
Tatsächlich sieht der Baubauungsplan jedoch vor, dass von dem Baumbestand auf dem Freiwiesle alle fünf Bäume, die als sehr erhaltenswert eingestuft worden sind, ebenso erhalten bleiben wie 14 weitere Bäume. Zudem sind Ausgleichsflächen vertraglich festgelegt, auf denen 31 Obstbäume gepflanzt werden sollen, 21 davon in unmittelbarer Nähe zum Freiwiesle.
Auch die Aussage Eriklis, die Streuobstwiese sei in einem gutem Pflegezustand, stieß auf Verwunderung. „Viele der Bäume wurden seit Jahren nicht geschnitten, teilweise sind sie mit Efeu bewachsen, während abgebrochene Äste auf der Wiese liegen – mir fällt es schwer, diese Einschätzung nachzuvollziehen“, sagt Walter Drexler.

Stahringen sei von Streuobst- und Obstwiesen umgeben, zahlreiche Familien lebten zumindest teilweise vom Obstanbau. Auch Drexler selbst bewirtschaftet eine Streuobstwiese und wisse, wie zeitintensiv die Arbeit sei. In Stahringen und auf der Homburg kenne er fast jeden Baum. Trotzdem befürwortet er das Baugebiet: „Wenn wir den jungen Familien keine Perspektive bieten, werden wir sie verlieren.“
„Wir empfinden die Darstellung in der Pressemittelung als einseitig. Zudem bedauern wir sehr, dass diese ohne jede Kontaktaufnahme mit der Ortsverwaltung veröffentlicht wurde“, bemängelt Ortsvorsteher Jürgen Aichelmann das Vorgehen von Erikli und Rösler.
Bebauungsplan war ein jahrelanger Prozess
Der vom Gemeinderat im Februar 2021 gefasste Satzungsbeschluss zur Umsetzung des Bebauungsplans sei das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses gewesen. Das Freiwiesle sei die einzige Möglichkeit, in Stahringen ein Baugebiet zu erschließen. „Das Baugebiet ist keine Entscheidung gegen die Bäume, sondern für die Familien“, sagt Aichelmann.
In enger Abstimmung zwischen dem Ortschaftsrat, der Stadtverwaltung und dem Landratsamt sei ein Kompromiss entstanden, der die Interessen des Naturschutzes mit denen der Familien verbinde, so der Ortsvorsteher.