Jürgen Klöckler

Vor 100 Jahren geschah, was Liggeringens Ortsbild bis heute prägt und am Dienstag, 6. Dezember, mit einem Vortrag erinnert werden soll: Am Freitag nach Aschermittwoch des Jahres 1921 nahm das Unglück im Dorf hoch droben auf dem Bodanrück seinen Lauf. Am Abend jenes 11. Februar 1921 brannte es infolge kindlicher Unachtsamkeit in Liggeringen lichterloh. Das in der Dorfmitte neben der Kirche St. Georg und der Gastwirtschaft Adler gelegene Rathaus wurde bis auf die Grundmauern zerstört. Das vormalig als Schulhaus und damals zugleich noch immer als Armenhaus genutzte Gebäude war Opfer der Flammen geworden.

Trotz Löscharbeiten der Liggeringer Feuerwehr konnte mit Radolfzeller Unterstützung bis weit nach Mitternacht ein vollständiges Niederbrennen nicht verhindert werden.

Menschen gerettet, doch der Schaden war groß

Immerhin konnte die Familie des Zimmermeisters Ferdinand Mayer, der Korbmacher Miez und die 80-jährige Witwe Graf lebend aus dem Rathaus gerettet werden. Doch der Verlust für die Gemeinde war immens. Zwar konnte der bei Ausbruch des Feuers im Gebäude anwesende Bürgermeister Sigmund Weber noch große Teile der Akten und insbesondere die wertvollen Grundbücher retten, doch die ebenfalls im Rathaus befindliche, erst im Herbst zuvor angeschaffte genossenschaftlich genutzte Dreschmaschine wurde restlos zerstört. Auch die Remise der Feuerspritze ereilte dieses Schicksal.

War es ein Kind oder doch ein Gemeinderat?

Nach dem Brand herrschte große Zwietracht in Liggeringen. Obwohl die kindliche Brandstifterin vor einem Radolfzeller Oberwachtmeister ein Geständnis abgelegt hatte, wurde ein Mitglied des Gemeinderats von seinen Kollegen der Brandstiftung verdächtigt. Der Bezirksamtsvorstand (heute: Landrat) Heinrich Belzer aus Konstanz versuchte bei einer Ortsbereisung wenige Wochen später die Wogen zu glätten, was ihm aber nicht gelang.

Eine Ansicht des Rathauses in Liggeringen (rechts) aus dem Jahr 1969, im Hintergrund die Dorfkirche.
Eine Ansicht des Rathauses in Liggeringen (rechts) aus dem Jahr 1969, im Hintergrund die Dorfkirche. | Bild: Archiv Klöckler

Mit dem Wiederaufbau des Rathauses (inklusive einer Armenwohnung und eines Bereichs für die Feuerwehr) wurde der Radolfzeller Architekt Fuchs beauftragt, der freilich mit einer von der Versicherung ausgezahlten Summe in Höhe von 200.000 Mark keine großartigen Planungen machen konnte. Die galoppierende Hyper-Inflation fraß das Geld sehr schnell auf.

Im April 1922 trat Bürgermeister Weber infolge der durch den Rathausbrand aufgeflammten politischen Zwietracht schließlich zurück. Unter den alteingesessenen Bürgern fand sich kein Nachfolger. So wurde am 23. April 1922 der beim Finanzamt Singen beschäftigte Obersteuersekretär Albert Rüdin gewählt, ein gebürtiger Offenburger, der in eine Liggeringer Gastronomenfamilie eingeheiratet hatte. Der neue Bürgermeister war von „national-sozialistischer Gesinnung“, wie es auf Seite 84 der Ortschronik von 1987 heißt.

Der Feldmarschall kommt an den Bodensee

Bürgermeister Rüdin sollte wesentlich dazu beigetragen, dass ein gewisser Eugen Speer 1929 von Schleswig-Holstein ins benachbarte Güttingen übersiedelte und dort als erster die Hakenkreuzfahne an seinem Anwesen in der heutigen Buchenseestraße aufzog. Speer, von starker Geltungssucht erfüllt und als „Feldmarschall vom Bodensee“ tituliert, wurde vom Karlsruher Gauleiter Robert Wagner zum ersten Konstanzer NSDAP-Kreisleiter eingesetzt; im Februar 1934 wurde der mittlerweile zum Gauinspektor aufgestiegene Speer auch Radolfzeller Bürgermeister.

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Rüdin und Speer kannten sich – so das Zeugnis des Liggeringer Pfarrers Gebhard Weber – „von der Kriegssoldatenzeit her. Beide waren in Kiel bei der Marine.“ Dort war Speer im November 1918 als Beigeordneter des Kommandeurs der Ersten Werft-Division einer der führenden „roten“ Revolutionäre, bevor sich der cholerische Machtmensch in kürzester Zeit von links- nach ganz rechtsaußen radikalisierte. Speer wurde nach eigenen Angaben schon 1922 zum glühenden Anhänger Adolf Hitlers.

Ohne Speer keine Kaserne

Fakt bleibt: Ohne Rüdin, der nach 1945 in die SPD eintreten sollte, hätte sich Speer wahrscheinlich nicht im benachbarten Güttingen, sondern womöglich anderswo am Bodensee niedergelassen. Dann hätte wohl auch die Radolfzeller Stadtgeschichte einen anderen Verlauf genommen, denn es war ausschließlich Bürgermeister Eugen Speer, der unter Schädigung des städtischen Vermögens mit allen Mitteln den Kasernenbau für das dritte Bataillon der in Hamburg stationierten SS-Standarte „Germania“ betrieb. Oder kurz: ohne Speer keine SS-Kaserne in Radolfzell.

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Einweihung des neuen Rathauses

Zurück ins Jahr 1922. Es war ein feierlicher Moment, als Bürgermeister Rüdin nach kurzer Bauzeit, nämlich am 6. Dezember 1922, das Rathaus einweihen konnte. Die Liste der damaligen Gemeinderäte (Frauen waren im Rat nicht vertreten) liest sich bis heute als ein „Wer ist wer“ der alteingesessenen Liggeringer Familien: Johann Rebholz, Josef Straub, Alfred und Josef Leitz, August Winter, Paul Schatz, Wilhelm Mayer, Anton Straub, Georg Miez und Timotheus Hügle. Zusammen mit Bürgermeister Rüdin tagten sie erstmals am 6. Dezember 1922 im neuen Rathaus, wo bis heute der Liggeringer Ortschaftsrat zu Beratungen zusammenkommt.

Bis auf das nach der Eingemeindung an der Straßenseite angebrachte Radolfzeller Wappen ist das Rathaus baulich fast unverändert. Auch der britische Luftangriff vom 21. Juni 1943 hat das Rathaus nicht wesentlich in Mitleidenschaft gezogen.

Das Rathaus im Advent 2022: Auf der Treppe stehen Ortsvorsteher Herman Leiz (links) und sein Stellvertreter Professor Jürgen Klöckler.
Das Rathaus im Advent 2022: Auf der Treppe stehen Ortsvorsteher Herman Leiz (links) und sein Stellvertreter Professor Jürgen Klöckler. | Bild: Mosandl, Hiltrud

Die einstige Armenwohnung wurde erst vor wenigen Jahren zu einem neuen Sitzungs- und Gemeinschaftssaal umgebaut. Diese Sanierung hat im wesentlichen Ortsvorsteher Hermann Leiz zusammen mit dem Ortschaftsrat und den Vereinen geschultert.