Es ist fast ein Ritual nach jeder Wahl: Man schaut besorgt aufs Abschneiden der AfD und stellt sich die Frage, wie sich der Erfolg der Partei begründet. Bei der Kommunalwahl Anfang Juni sind drei von vier AfD-Kandidaten in den Gemeinderat gewählt worden. Alle vier Kandidaten waren zuvor kommunalpolitisch nicht aufgefallen, holten aber Stimmenzahlen, von denen die meisten Kandidaten etablierter Gruppierungen nur träumen können. Woran liegt es, dass diese Partei einen solchen Erfolg einfährt? Auf diese einfache Frage gibt es keine einfache Antwort.
Hochburgen sind Hausen und die Südstadt
Über alle Singener Wahlbezirke gesehen erreichte die AfD bei der Gemeinderatswahl im Juni einen Stimmenanteil von 8,9 Prozent. Die meiste Zustimmung gab es in Hausen mit 16,9 Prozent, dem kleinsten Singener Ortsteil. Auf den Plätzen zwei und drei folgen die Wahllokale in der Schillerschule in der Singener Südstadt mit 15,8 und 15,0 Prozent. Die Entwicklung ist nicht neu: Schon bei Bundestagswahl und Landtagswahl 2021 bekam die AfD in der Südstadt und in Hausen hohe Stimmenanteile.
Das Bild relativiert sich ein wenig, wenn man die Briefwahlstimmen einbezieht, wo deutlich weniger Wähler ihr Kreuz bei der AfD machten als bei der Urnenwahl. Allerdings sind die Bezirke nicht deckungsgleich. Hausen gehört laut dem städtischen Pressesprecher Stefan Mohr zum Briefwahlbezirk VIII, in dem die AfD 5,8 Prozent der Stimmen bekam. Die Urnenwahlbezirke, die in der Schillerschule abgestimmt haben, gehören zum Briefwahlbezirk VI mit 5,4 Prozent für die AfD. Zur Erinnerung: Die Partei wird von Verfassungsschutzbehörden in Teilen als erwiesen rechtsextrem eingestuft. Und der Kreisverband Konstanz wird derzeit von Querelen erschüttert, in denen nach SÜDKURIER-Recherchen mit harten Bandagen gekämpft wird.

Udo Engelhardt ist mit der Singener Südstadt vertraut. Er war viele Jahre ein Gesicht der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Singen und hat viele Projekte für Menschen initiiert, die man im Politiksprech als sozial schwach bezeichnet. Heute, im Ruhestand, ist er als Vorsitzender des Vereins Kinderchancen und der Singener Tafel aktiv.
Über ihre politische Haltung spreche er selten mit den Leuten, sagt Engelhardt. Aber: „Es gibt Erfahrungen von Stigmatisierung und Ausschluss, teilweise noch aus der Elterngeneration.“ Eine Erklärung dafür hat er auch parat: „Wenn Menschen, die nicht so auf der Sonnenseite stehen, eine Wohnung brauchten, kamen sie oft nach Singen.“ Und wenn Menschen sich benachteiligt fühlen, gehe Vertrauen in etablierte politische Kräfte verloren. In dieses Horn stoße die AfD.
Hört man sich in der Singener Südstadt um, wird diese Ansicht durchaus bestätigt. Zum Beispiel bei einer Gruppe von Menschen, die im Café beim Rewe-Supermarkt an einem Tisch im Freien sitzen. Sie würden alle von Rente leben, sagt eine Frau. Dass diese Renten nicht groß sind, ist herauszuhören: „20 Euro habe ich für die kleine Tasche Einkäufe gezahlt, und da sind Zigaretten nicht mal dabei“, sagt einer.
Lästige Klimakleber, in ihren Augen zu viele Ausländer, die man sich nicht leisten könne, eine Außenministerin der Grünen, die nur fliege statt Bahn zu fahren – die Gruppe findet viele Gründe für Unzufriedenheit. Und dass in der Ukraine gekämpft werde, dafür könne man selbst ja nichts, auch so ein Satz fällt im Gespräch. Seinen Namen nennt keiner, sonst werde man noch gesteinigt, sagt die Frau. Sie habe die AfD gewählt. Schlimmer könne es ja nicht mehr kommen. Der Einwand, dass die Projekte, die Menschen in der Gegend helfen sollen, von anderen Parteien beschlossen wurden, bringt die Gruppe kurz zum Nachdenken. Man müsse es jetzt mal ausprobieren, heißt es dann hinsichtlich der AfD.

Viel Enttäuschung hat sich breitgemacht
Christian Siebold weist auf einen anderen Punkt hin. Er ist Vorsitzender der Siedlergemeinschaft. Der Verein wurde 1937 gegründet, um Selbstversorgung und Nachbarschaftshilfe zu organisieren. Die Wahlbeteiligung sei in vielen Gebieten, in denen die AfD erfolgreich ist, niedrig: „Die Leute kriegen von Politik eigentlich nichts mit“, sagt er. Das liege auch an mangelnder Präsenz: „Den Kommunalpolitiker zum Anfassen gibt es nicht mehr“, sagt Siebold. Das sagen auch die AfD-Wähler vor der Bäckerei: Einen Gemeinderat hätten sie noch nie angetroffen.
CDU-Mann Franz Hirschle ist bei der Gemeinderatswahl mit 12.318 Stimmen Stimmenkönig geworden, liegt als einziger vor den AfD-Kandidaten und ist Vorsitzender der größten Fraktion im Gemeinderat. Er merkt selbstkritisch an: „Schon 2019 haben wir das analysiert und wollten mehr in der Südstadt machen. Das ist dann ehrlicherweise nicht passiert.“ Doch er sagt auch: „Man könnte die Bevölkerung immer besser mitnehmen, es ist immer Luft nach oben.“ Nun müsse das Thema auf die Agenda, um politikferne Menschen besser einzubinden.
Einige dieser sind längst enttäuscht: „Von der Politik erwarte ich nichts“, sagt Meliha Karakaya. Sie lebt in einem der Wohnblöcke im Langenrain, die früher mal der städtischen Baugesellschaft GVV gehörten. Sie kommt zur Aktion Redezeit, bei der die Singener Tafel mit Menschen ins Gespräch kommen will. Die Häuser seien schon länger in privater Hand, die derzeitige Eigentümergesellschaft insolvent, berichtet das Redezeit-Team aus Reinhard Zedler, Angela Berger, Raimund Siirak, Mirja Zahirovic und Martina Kaiser. Auch Engelhardt und Siebold schauen am Montag vorbei.
Eine Erfahrung von Machtlosigkeit
Wochenlang habe es kein warmes Wasser in den Wohnblöcken gegeben, berichten Karakaya und die Redezeit-Helfer. An die 40 Menschen habe sie zusammengetrommelt, um das Problem anzubringen, erzählt Karakaya. Torsten Kalb, Fachbereichsleiter Jugend, Soziales und Ordnung bei der Stadtverwaltung, und Winfried Kropp vom Mieterbund seien bei einem extra Termin auf dem Supermarktparkplatz ebenfalls dabei gewesen.
Nun gebe es wieder warmes Wasser, berichtet Karakaya – ein Erfolg. Die einzelnen Mieter hätten sich gegenüber der Eigentümergesellschaft allerdings ziemlich machtlos gefühlt.
Solche Erfahrungen dürften die Menschen in Hausen an der Aach nicht machen, dort prägen Einfamilien- und Reihenhäuser das Bild. Und doch hat die AfD in der Präsenzwahl mit 16,9 Prozent hier den höchsten Stimmenanteil in ganz Singen erzielt. Ortsvorsteherin Claudia Ehret überrascht das nicht. Auch früher hätten in Hausen etwa zehn Prozent Extreme gewählt, sagt sie. Bei Gesprächen im Dorf spüre sie Unzufriedenheit, erzählt Ehret: „Die Leute fühlen sich nicht mehr gehört.“ Auch sie denkt, dass etablierte Parteien mehr Präsenz zeigen sollten. Ihr Eindruck: „Das war eine Denkzettelwahl.“
Von einer Denkzettelwahl spricht auch Angelo Spannagel, der mit seiner Frau Sonja im Neubaugebiet lebt. Im Gespräch mit ihnen ist die Unzufriedenheit mit Händen zu greifen. Es gebe zu viele Rentner mit mickriger Rente, die Mächtigen in Berlin machen, was sie wollen, und kriminelle Ausländer müssen weg. Da fänden sie es gut, dass viel AfD gewählt wurde, sagt Angelo Spannagel. Wie sich die Präsenz der AfD auf den Gemeinderat auswirkt, wird sich zeigen.