Es war ein Samstagabend im Januar 2021 als sich bei der Ortseinfahrt Neudingen der Unfall ereignete. Ein 47-Jähriger war aus unbekannten Gründen nachts auf der Straße unterwegs – und etwas später tot. Ein Auto war über ihn gefahren, als er bereits auf der Straße lag – oder lief die Sache anders ab?
Um das zu klären, wird damals Christian Ill aus Singen gerufen. Der Ingenieur für Fahrzeugtechnik packt seine Gerätschaften ein und macht sich auf den Weg. Er hat Bereitschaftsdienst. Wenn in der Nacht das Telefon klingelt, dann muss er los. Sein Zielort kann dann irgendwo zwischen Friedrichshafen, Rottweil oder dem Schwarzwald sein. In dieser Nacht geht es Richtung Donaueschingen.
Analytiker der Dekra
Ill arbeitet für die Dekra in Singen. Dort ist er hauptsächlich in der Abteilung für Unfallanalytik zuständig. Die Abteilung besteht aus sechs Mitarbeitern und wird von Jürgen Schramm geleitet: „Wir sind hier alle Ingenieure. Das erleichtert die Tätigkeit.“ Schramm selbst hat eine Lehre als Kfz-Mechaniker absolviert und später physikalische Technik studiert.
Das Spannende an dem Beruf? „Es ist das analytische Vorgehen, das uns fasziniert. Es ist sehr vielseitig.“ Die Arbeit besteht nicht nur aus den Rekonstruktionen eines Unfallgeschehens am PC, die Analytiker schauen sich vor Ort bei einem Ereignis um – und sind als Sachverständige schließlich auch vor Gericht, um ihre Berichte zu erläutern.
Als Christian Ill gegen Mitternacht in Neudingen ankommt, hat sich die Witterung bereits geändert. Leichter Schneefall setzt ein. „Es lag schon eine hauchdünne Schicht“, erinnert er sich. Das erschwert seine Arbeit, nämlich alle Spuren des Unfalls zu sichern. Rettungskräfte sind vor Ort, im Schnee befinden sich bereits viele Spuren.

Welche Energien wirken?
„Unsere Recherche hat viele Komponenten“, sagt Jürgen Schramm, Leiter der Unfallanalytik der Dekra in Singen. Man müsse Fahrzeuge im Detail untersuchen und feststellen, welche Energien wie gewirkt haben. Das hänge auch vom Fahrzeugtyp ab: „War es ein Personenwagen oder ein Lastwagen – und welche Klasse?“ Die physikalischen Zusammenhänge seien hochkomplex „und nicht mehr mit denen zu vergleichen, die man aus dem normalen Straßenverkehr kennt“, so Schramm.
Der Fall in Neudingen
In Neudingen befinden sich vor Ort noch der zu Tode gekommene Spaziergänger sowie das Unfallfahrzeug „in seinem Endstand“. Außerdem Trümmerteile. Alles wird von Christian Ill akribisch unter die Lupe genommen und dokumentiert. „Es wird dann schließlich auf eine Skizze übertragen, auf der die Situation übersichtlicher und besser zu erkennen ist“, erklärt er. Eine Hinweis gibt es auf der Jacke des Spaziergängers: Dort befindet sich eine Reifenspur: „Es war sichtbar, dass das Auto noch ausweichen wollte.“
Wie bei einem Puzzle
Die Trümmerteile werden später in der Werkstatt wie ein Puzzle Teil für Teil wieder zusammengesetzt. „Sie passen haargenau zum Unfallfahrzeug“, sagt Ill. Über eine Zeugin wurde zuvor noch ein Transporter erwähnt. Auch der wird ausfindig gemacht und genau untersucht. Spuren gibt es hier jedoch keine. Ob er den Mann zu Fall gebracht hat? „Das können wir nicht sagen“, so Ill weiter. Werde man vor Gericht gefragt, dann präsentiere man die Fakten und könne Aussagen zu Wahrscheinlichkeiten machen. Das Beurteilen sei schließlich die Aufgabe der Juristen.

Die Schattenseiten
Als Unfallanalytiker sei es besonders wichtig, sich zu seinem Fachwissen über die gemachten Erfahrungen eine breite Wissensbasis anzueignen, sagt Schramm. „Die Schattenseiten gibt es dabei allerdings auch.“ Der Abteilungsleiter spricht dabei von der psychologischen Belastung. Bei Unfällen mit Todesfolge sind die Personen meist noch vor Ort, müssen teilweise untersucht werden. Das sei besonders schlimm bei Kindern oder Brandleichen. Dafür gebe es dann allerdings auch professionelle Betreuung.
Subjektiven Eindruck erklären
Was bei dem Fall vor dem Donaueschinger Ortsteil schließlich auch gewünscht wird: eine subjektive Darstellung. Wie waren die Bedingungen vor Ort zum Zeitpunkt des Unfalls. Kurz bevor der 47-Jährige überfahren wurde, kam eine Zeugin in ihrem Auto auf der anderen Spur entgegen. Hatte das irgendeine Auswirkung? „Wir haben die Sicht durch die Scheibe, bei Nacht, und schließlich auch die Frage, ob die Scheinwerfer richtig eingestellt sind“, sagt Ill. Er kann hier aufzeigen, dass das Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Fahrzeuges die Sicht von dem am Boden liegenden Mann ablenkte, sie stark erschwerte.
Zu verhindern gewesen?
Die Fragen, die sich für die Staatsanwaltschaft stellen: Hätte der Unfall mit dem zweiten Auto verhindert werden können – etwa durch eine geringere Geschwindigkeit? Das Unfallauto war mit 75 Kilometern pro Stunde (km/h) unterwegs. Ill errechnet, dass bei einer Geschwindigkeit von 57 Sachen der Vorfall vermeidbar gewesen wäre, eine rechtzeitige Reaktion vorausgesetzt. Erlaubt sind in dem Bereich der Straße allerdings 100 km/h.
Stets neutral
Am Computer kann Ill anhand verschiedener Modelle unterschiedlichste Varianten durchspielen. Das Ergebnis schließlich: Der Mann lag wohl schon am Boden als das Fahrzeug kam. Das zeigen die Reifenspuren und die Trümmerteile des Autos, sowie die Endposition, an der das Fahrzeug schließlich stehen geblieben ist. Warum der Mann aber gefallen ist? „Das können wir nicht nachvollziehen. Das wäre dann Spekulation“, erklärt Schramm. Ganz oben steht dabei der Grundsatz, stets neutral zu arbeiten.
Rund 25 Stunden
Rund zwei bis drei Stunden ist Ill in Neudingen vor Ort. Bis der Bericht erstellt ist, dauert es etwa 20 bis 25 Stunden. Vor Ort ist der Analytiker auch so etwas wie der Manager der Situation: „Viele warten schon mehrere Stunden wenn wir eintreffen – und sie wollen schnell weg, den Abschlepper anrufen. Wir werden da gleich mit vielen Fragen konfrontiert“, erklärt Ill.
Und Zuhause?
Und wir beeinflussen ihn die Erfahrungen aus der Arbeit privat? Jürgen Schramm lebt daheim seine Faszination für Technik aus: „Bei mir sind die Dinge erst mal nicht kaputt. Vorher muss ich sie aufschrauben.“ Und Christian Ill ist seit seiner Arbeit als Unfallanalytiker nachts immer mit reflektierender Kleidung unterwegs.