Plötzlich stand die 14-jährige Sophie D. (Name geändert) ohne Zuhause da. Ihre Wohngruppe musste sie wegen anhaltender Konflikte verlassen. Eine neue Bleibe hatte ihre Sozialarbeiterin noch nicht für sie gefunden. Zu ihrer Mutter konnte die junge Schweizerin aufgrund der schwierigen Verhältnisse nicht. Ihren Vater lernte sie nie kennen. Und in eine Notunterkunft wollte sie nicht, weil die Jugendliche dort schlechte Erfahrungen mit Suchtkranken gemacht hatte.

„Konfrontiert mit der überwältigenden Angst, isoliert, allein und schutzlos auf der Straße zu stehen, sah sie nur eine Möglichkeit: sich selbst zu helfen“, schreibt die auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene spezialisierte Beratungsstelle Kokon in ihrem Bericht. Die 14-Jährige meldete sich bei einer Sugardating-App an.

Sugardaddys und Sugarbabes

Sugardating ist ein gerade auch in Deutschland weitverbreitetes Phänomen: Meist ältere Männer mit Geld suchen junge Frauen, oft für sexuelle Gefälligkeiten. Als Gegenleistung erhalten die Frauen Geld, Luxusartikel oder Urlaubsreisen. In manchen Fällen finanzieren sogenannte Sugardaddys die Miete, das Studium oder den Lebensunterhalt ihrer „Sugarbabes“.

Um sich auf der Sugardating-App registrieren zu können, muss man als Alter mindestens 18 angeben – überprüft wird das nicht. Kurz nachdem sich Sophie D. dort angemeldet hatte, schrieb ihr der 50-jährige Jeevan F. (Name geändert). Der Gastronom betreibt eine Bar in einem bekannten Ausgehviertel in der Stadt Zürich. Er ist wegen eines illegal aufgestellten Spielautomaten und Misswirtschaft vorbestraft.

Nun musste er sich vor einem Schweizer Gericht wegen sexueller Handlungen mit einem Kind, mit einer Minderjährigen gegen Entgelt und Ausnützung einer Notlage verantworten. Der Beschuldigte bestreitet die Vorwürfe.

Kaputte Schuhe und Hunger

Der 50-Jährige und Sophie D. vereinbarten im Juli 2022 ein Treffen auf einem Parkplatz in Winterthur. Dort erzählte sie ihm, dass sie obdachlos sei, zu niemandem könne und großteils von der Sozialhilfe lebe, wie aus der Anklageschrift hervorgeht.

Der Polizei sagte der 50-Jährige später, er habe mit Sophie D. besprochen, „sich regelmäßig zu treffen und Sex zu haben“. Laut Anklage gab er der 14-Jährigen an jenem Tag 200 Franken. „Sie hat mir ihre kaputten Schuhe gezeigt und wollte etwas essen gehen, deshalb habe ich ihr das Geld gegeben“, sagte der Beschuldigte vor Gericht.

Zwei Tage nach dem ersten Treffen holte Jeevan F. die 14-Jährige mit dem Auto ab. Die Staatsanwältin schrieb in ihrer Anklage: „Im Wissen, dass die Geschädigte keine Zufluchtsmöglichkeit bei ihrer Familie hatte und daher obdachlos und finanziell nicht in der Lage war, ein Hotel zu bezahlen, reservierte der Beschuldigte ein Zimmer (…) in Rümlang.“ Die 8000-Einwohner-Gemeinde befindet sich nahe dem Flughafen Zürich-Kloten, rund 20 Autominuten vom Landkreis Waldshut entfernt.

Opferanwältin: „Schauen Sie sich dieses Kind an“

Im Hotel habe der 50-Jährige Sophie D. aufgrund ihres kindlichen Aussehens nach ihrem Alter gefragt. Sie habe ihm geantwortet, knapp 19 zu sein. Der offensichtlich misstrauische Jeevan F. fragte sie nach zwei Ausweisen. Sie antwortete, sie habe einen verloren und den anderen nicht dabei.

F. glaubte ihr daraufhin ihr vermeintliches Alter. Das macht die Opferanwältin von Sophie D. wütend: „Wenn ein Teenager keinen Ausweis zeigen kann, dann kann kein Mann ernsthaft annehmen, sie sei schon 18. Vielmehr muss ihn das erst recht misstrauisch machen“, sagte sie vor Gericht.

Doch im Hotelzimmer in Rümlang kam es auch zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr, wie Jeevan F. zugibt. Nach dem Sex gab er ihr laut Anklage 50 bis 100 Franken.

Verteidiger: „Er wollte ihr helfen“

Einen Tag nach dem ersten Geschlechtsverkehr buchte der Beschuldigte ein günstigeres Hotel in Rümlang um 665 Franken für sieben Nächte. Wieder kam es zum ungeschützten Sex, obwohl die 14-Jährige zuvor Nein gesagt und Ausreden gesucht hatte, um das Hotelzimmer zu verlassen. „Dass er trotz einer gerade überstandenen Geschlechtskrankheit nicht einmal ein Kondom benutzte, zeugt von zusätzlicher Rücksichtslosigkeit“, sagt die Opferanwältin.

Nach dem Geschlechtsverkehr zahlte Jeevan F. der 14-Jährigen laut Staatsanwaltschaft noch 100 Franken. „Mein Mandant hat ihr das Geld gegeben und das Hotelzimmer bezahlt, weil er ihr helfen wollte. Ein Konnex mit sexuellen Handlungen bestand nicht“, erklärt der Verteidiger vor Gericht.

Beschuldigter: „Es ist nicht meine Schuld“

Die Beratungsstelle Kokon schreibt in ihrem Bericht: „Der wiederholte Sex unter Ausnutzung ihrer Notlage hat Sophie D. tiefe psychische Wunden zugefügt.“ Die Erfahrung, sich in der Not verkaufen zu müssen, habe bei der 14-Jährigen „Ekel, Abscheu und Grauen“ ausgelöst, wie sie in Beratungsgesprächen sagte.

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Einen Tag nach dem dritten Treffen geriet die 14-Jährige mit einem gleichaltrigen Freund in eine Polizeikontrolle. Weil dieser erwähnte, dass sie bei einem alten Mann im Hotel wohne, wurden die Beamten hellhörig. „Die Polizei hat vorbildlich reagiert – ihr ist es zu verdanken, dass Sophie so schnell dieser Ausnützungssituation entkam“, sagt Schaumann. Jeevan F. wurde am selben Tag festgenommen und kam nach zwei Tagen Haft wieder frei.

Richter: „Die fehlende Bleibe hat ihm in die Hände gespielt“

Der Schweizer Richter sprach Jeevan F. schließlich von den Vorwürfen frei, ihre Notlage ausgenutzt und gegen Entgelt Sex mit einer Minderjährigen gehabt zu haben. Zwar habe dem Beschuldigten die „fehlende Bleibe der Geschädigten in die Hände gespielt – das liegt auf der Hand“, sagte der Richter. Dennoch würden für ihn zu wenig Indizien für einen direkten Zusammenhang zwischen Notlage und Sex vorliegen.

Zwar ist für den Richter unstrittig, dass Geld nach dem Geschlechtsverkehr übergeben wurde. „Allerdings gibt es in den Akten keinen Hinweis darauf, dass der Beschuldigte zuvor Geld für Sex in Aussicht gestellt hatte.“

Tätigkeitsverbot, aber keine Landesverweisung

Zu einem Schuldspruch kam es jedoch beim Vorwurf der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind. „Sie hätten auf dem Vorzeigen eines Ausweises beharren und bis dahin mit dem Sex warten sollen“, sagte der Richter in seiner Urteilsbegründung.

Er verurteilte Jeevan F. – nicht rechtskräftig – zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten auf Bewährung bei einer Probezeit von drei Jahren. Zudem darf der Gastronom lebenslänglich nicht mit Minderjährigen zusammenarbeiten und muss Sophie D. 5000 Franken Genugtuung bezahlen.

Desillusioniert vom Urteil und vom Strafverfahren zeigt sich die inzwischen 16-jährige Sophie D. „Ich bin enttäuscht, der Täter wurde zu milde bestraft“, sagt sie. Von der Staatsanwältin habe sie sich nicht ernst genommen gefühlt. „Ich bekam das Gefühl, nicht Opfer, sondern Täterin zu sein.“