Wenn die Familie eine Keimzelle unserer Demokratie ist, dann stimmt vielleicht etwas mit unseren Familien nicht. Die amerikanische Regisseurin Yana Ross unterzieht jetzt in Zürich versuchsweise ein Exemplar einer öffentlichen Therapie. Und siehe da: Die allgemeine Gereiztheit erweist sich als Symptom tief verwurzelter Traumata. Man kann sagen, die Menschen sind Gefangene ihrer Familiengeschichte, ihre Konflikte sind Wurmfortsätze längst vergangener Fehden, die Gegenwart dient ihnen nur als Folie.

Die Personen, an denen Ross diese Demonstration vornimmt, sind die Protagonisten in Anton Tschechows Stück „Der Kirschgarten“. Firs, im Original ein abgehalfterter Diener des Hauses, schwingt hier als Psychotherapeut mit Doktortitel (Gottfried Breitfuss) das große Wort. In seiner mondänen Praxis mit Minibar und Minipool (Bühne: Justyna Elminowska) hat sich eine Familie eingefunden: Es geht darum, der gemeinsamen Mutter, Schwester und guten Freundin Ljuba (Danuta Stenka) nach ihrem Selbstmordversuch wieder zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu verhelfen.

Firs (Gottfried Breitfuss) schwingt sich bei Yana Ross zum Psychotherapeuten auf.
Firs (Gottfried Breitfuss) schwingt sich bei Yana Ross zum Psychotherapeuten auf. | Bild: Zoe Aubry

Doch damit fängt das Problem auch schon an. Denn wie selbstlos kann ein solches Hilfsangebot sein, wenn es vom Neureichen Heinz (Thomas Wodianka als Geschäftsmann Lopachin) stammt, dessen Vater und Großvater einst noch als einfache Bauern Ljubas Familie dienen mussten? „Du willst dich doch nur rächen!“, wirft ihm Ljubas Schwager Leo (Michael Neuenschwander) vor. Der freilich mach keinen Hehl daraus, dass er sich schon durch Geburt für etwas besseres hält: „Bauer bleibt Bauer“, sagt er und meint damit, dass auch ein Adeliger selbst dann einen höheren Stand genießt, wenn Geld und Einfluss längst verspielt sind.

Machtgefüge geraten ins Rutschen

Ljuba selbst schwebt als Rockstar mit Lederjacke und Sonnenbrille ein, vor lauter kosmopolitischer Erfahrung kommt sie – „Oh shit! It‘s unbelievable!“ – aus dem Englischen kaum noch heraus. Die echte Person hinter dieser Fassade muss erst in mühsamen Therapiesitzungen herausgeschält werden: Sie sei vor sich selbst davon gelaufen, bekennt sie schließlich. Doch auch das scheint gelogen. Es dürften viel mehr die veränderten Verhältnisse gewesen sein, in denen einstige Sicherheiten verloren gegangen und Machtgefüge ins Rutschen geraten waren.

Vor sich selbst davongelaufen: Danuta Stenka als Ljuba.
Vor sich selbst davongelaufen: Danuta Stenka als Ljuba. | Bild: Zoe Aubry

So, so, ruft Leo: „Und warum musstest du dann ausgerechnet nach Westen fliehen? Wäre nicht auch der Osten gegangen?“ Also echt jetzt, wirft da die Tochter Anja (Wiebke Mollenhauer) ein: „Wollen wir wirklich das Ost-West-Fass aufmachen?“ Überall lauert die persönliche Verletzung, jedes Wort kann ein „Fass aufmachen“. Und immer ist dieses Fass historisch begründet. Der Gedanke an die hochgradig gereizte Gesellschaft in Thomas Manns „Zauberberg“ liegt in der Luft.

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Für ihre Familienaufstellung greift Ross – „frei nach Anton Tschechow“ – in den Text massiv ein. So gehört zu den durchaus schlüssigen ironischen Brüchen, dass Ljubas geliebter Kirschgarten gar nicht zum Verkauf steht: Heinz hat ihn sich längst schon unter den Nagel gerissen. Das Problem an diesem Abend besteht weniger in seiner künstlerischen Freiheit als im Zuviel an erzählerischer Intention.

Familienaufstellung nach Anton Tschechow. Ein Szene aus Yana Ross‘ Inszenierung von Anton Tschechows „Kirschgarten“ in ...
Familienaufstellung nach Anton Tschechow. Ein Szene aus Yana Ross‘ Inszenierung von Anton Tschechows „Kirschgarten“ in Zürich. | Bild: Zoe Aubry

Neben der Offenlegung einer traumatischen Substanz unserer Konflikte geht es dieser Inszenierung nämlich auch um Fragen nach der Bedeutung von geschützten Räumen, nach dem Verhältnis von Übergriffigkeit und Fürsorge, um Unterschiede des Geschlechts, der Hautfarbe und der Klasse oder um Orte, an denen wir Wurzeln schlagen. Als Ljuba unter einer Marmorplatte Schmuckstücke ihrer Ahnen findet, kommt auch noch das Thema Vertreibung ins Spiel, und wenn Ljubas einst tödlich verunglückter Sohn (Vincent Basse) auftaucht, geht es um die Mechanismen der Trauer. Das alles wird immer diffuser, führt immer weiter weg vom eigentlich doch raffinierten Ausgangsgedanken und mündet schließlich in eine sich zähflüssig dahinziehende Abschiedsszene am Bahnhof.

Lustvolle Charakerzeichnungen

Die Schauspieler trösten mit lustvollen Charakterzeichnungen über viele Längen hinweg. Wiebke Mollenhauer überzeugt als mädchenhaft ausgeflippte Anja, Lena Schwarz als deren sich erwachsener gebende Adoptivschwester. Schön anzusehen auch das Gegensatzpaar Michael Neuenschwander als schnöseliger Adelsspross Leo und Thomas Wodianka in der Rolle des verbissenen Aufsteigers Heinz. Allenfalls Danuta Stenkas Interpretation der Ljuba könnte man sich etwas weniger theatralisch, affektgeladen vorstellen.

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Anders als bei Tschechow ist sie es, die allein auf dem Anwesen zurückgelassen wird. Eine gealterte Frau, therapiert aber einsam. Seltsam sei das, sagt sie: „Das Leben geht vorbei, als hätte ich nie gelebt.“ Der Mensch verbringt die größte Zeit seines Daseins damit, die historisch geerbten Traumata zu bewältigen. Dabei vergisst er nur eines: sich selbst.

Kommende Vorstellungen: heute sowie am 18. und 21. Dezember im Schauspielhaus Zürich. Infos: http://www.schauspielhaus.ch