Frau Zietzschmann, seit 2017 sind Sie Intendantin der Berliner Philharmoniker und haben zwei normale Spielzeiten geplant und durchgeführt. Im März 2020 hat die Corona-Pandemie dann das Musikleben komplett still gelegt. Waren die letzten eineinhalb Jahre bisher Ihre größte Herausforderung?
In meinem beruflichen Leben auf jeden Fall. Mit einer Situation zurechtzukommen, die man nicht kennt und kaum einzuschätzen vermag, trotzdem mutig zu sein und voranzugehen – das war eine unglaubliche Herausforderung. Auch für die Kultur so zu streiten, dass wir kleine Schritte Richtung Spielbetrieb gehen konnten. Da war viel Lobbyarbeit notwendig. Ein Tagesgeschäft, das ich so überhaupt nicht kannte. Die inhaltliche Arbeit blieb dabei fast komplett auf der Strecke.
Was haben Sie gelernt?
Zunächst einmal die Erkenntnis, dass man nie weiß, was der nächste Tag bringt. So lernt man auch, Dinge mehr zu schätzen. Wir wurden gefordert zu improvisieren, anders zu denken und zu planen, kurzfristiger zu reagieren. Das war sicherlich eine gute Schule für alle, weil wir ja im Klassikbetrieb bislang drei oder vier Jahre im Voraus planen.
Sie sind im beschaulichen Sankt Georgen im Schwarzwald aufgewachsen und haben dort in einem Jugendorchester Geige gespielt. Welche Beziehung haben Sie zu Ihrer Herkunft?
Meine Heimat hat mich stark geprägt. In der Schule besaß die Musik einen enormen Stellenwert. Wir haben mit dem Schulorchester viele Tourneen unternommen. Schon damals konnte ich einiges über organisatorische Abläufe lernen. Natürlich prägte mich auch die Landschaft. Ich bin nach wie vor sehr gerne dort, um meine Eltern zu sehen.
Sie brauchen in dieser unruhigen Zeit eine gute Erdung. Hat diese Bodenhaftung auch mit Sankt Georgen zu tun?
Das kann gut sein. Gelassenheit und innere Ruhe waren für die Bewältigung dieser enormen Herausforderungen unerlässlich. Dennoch bin ich an meine Grenzen gekommen. Aber diese Schwarzwälder Erdung, dass man auch manches Mal intuitiv die richtigen Entscheidungen trifft, hat mir in meinem Beruf sehr geholfen.
War Ihr beruflicher Weg über Freiburg, Wien und Hamburg zum Studium, nach Berlin für das Management des Mahler Chamber Orchestra, nach Frankfurt zum Hessischen Rundfunk, dann Hamburg beim NDR und jetzt wieder nach Berlin nicht auch eine Flucht aus der Provinz, die auch eng und eingrenzend sein kann?
Menschen aus dem Schwarzwald trifft man überall auf der Welt. Wir sind doch sehr offen, abenteuerlustig und reisefreudig. Im Schwarzwald sind enorme Kreativität und Erfindergeist zu Hause. Ich habe Sankt Georgen nie als eng empfunden. Aber wenn man mehr Kultur und städtisches Leben möchte, dann muss man natürlich wegziehen.
Der neue Chefdirigent Kirill Petrenko hatte das Pech, in seiner ersten Spielzeit von der Corona-Pandemie ausgebremst zu werden. In dieser Saison dirigiert er unter anderem alle Tourneekonzerte. Konnte er das Orchester schon formen?
Durch die vielen kleineren Formationen in den Konzerten der letzten beiden Jahre konnte er alle Musikerinnen und Musiker sehr gut kennenlernen. Mozarts „Gran Partita“ für zwölf Bläser und Kontrabass beispielsweise hätte er im normalen Programm nie einstudiert. Diese Nähe war wichtig für Orchester und Dirigent. Kirill Petrenko arbeitet sehr am Klang und an der Dynamik. Er schult das Orchester gerade in der Kunst, leise zu spielen. Er ist wirklich detailbesessen – das tut den Berliner Philharmonikern gut. Jedes Orchestermitglied wird extrem gefordert.
In dieser Saison kommt das Orchester gleich zweimal zu Residenzen ins Festspielhaus Baden-Baden: im November und zu den Osterfestspielen 2022. Ist das Herbst-Gastspiel der Ersatz für das Ersatzfestival, das im Mai 2021 geplant war?
Genau. Wir können das aber nur machen, weil unsere im Herbst 2021 geplante Asien-Tournee nach Japan, China und Taiwan abgesagt wurde. So zeigen wir in Baden-Baden doch noch die bereits im Frühjahr fertig geprobte Oper „Mazeppa“, die eigentlich in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov für Ostern 2021 vorgesehen war, konzertant in zwei Aufführungen. Diese Tschaikowsky-Oper ist relativ unbekannt und auch für das Orchester absolutes Neuland. Aber Kirill Petrenko bewegt sich traumwandlerisch in diesem Repertoire und hat die Oper auch schon einmal in Lyon dirigiert. Es wird eine exemplarische Interpretation dieses Werkes geben – so viel darf ich versprechen.
Neben dem russischen Repertoire wie der 10. Symphonie von Schostakowitsch im November und den weiteren Tschaikowsky-Opern „Pique Dame“ und „Jolanthe“ bei den Osterfestspielen 2022 dirigiert Kirill Petrenko beim kommenden Gastspiel auch Frühromantik wie Mendelssohns „Schottische Symphonie“ und Schuberts große C-Dur-Symphonie.
Kirill Petrenko hat für sich verschiedene Programmlinien gesetzt – und das deutsch-österreichische Kernrepertoire der Berliner Philharmoniker ist ihm sehr wichtig. Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schubert, Brahms, Mahler, Strauss – die gehören einfach zur DNA des Orchesters.
Als Kirill Petrenko vorgestellt wurde, hat er auch von einer menschlichen Nähe zu Ihnen gesprochen. Wie kommen Sie nach gut zwei Jahren gemeinsamer Arbeit miteinander klar?
Das gegenseitige Vertrauen ist weiter gewachsen. Durch die ständigen Corona-bedingten Veränderungen war der Austausch zwischen uns vielleicht noch enger als im normalen Konzertbetrieb.
War Petrenko sehr frustriert, dass er einige Herzensprojekte wie den Baden-Badener „Fidelio“ 2020, der schon fertig geprobt war, nicht realisieren konnte?
Natürlich war er sehr enttäuscht – wie das gesamte Orchester. Aber er ist sehr professionell und pragmatisch damit umgegangen. Sein Blick geht immer nach vorne.
Im November kommen die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigent Kirill Petrenko für vier Konzerte nach Baden-Baden. Weitere Informationen: www.festspielhaus.de