Die Donaueschinger Musiktage tragen jetzt immer ein Motto. Im letzten Jahr hieß es „colLABORation“, in diesem Jahr „alone together“. Es geht um das Verhältnis von Individuum und Gruppe. „Musikalischen Aufführungen ist das Paradoxon zu eigen, sowohl solitär und intim wie auch gemeinschaftlich und öffentlich zu sein“, so die künstlerische Leiterin Lydia Rilling dazu. Das ist natürlich sehr allgemein – so sehr, dass man bereits Sinn und Zweck einer Motto-Findung hinterfragen mag. Ist halt auch schwierig bei einem Uraufführungsfestival, das letzten Endes ja selbst für die künstlerische Leitung immer so etwas wie eine Überraschungstüte bleiben muss.
Integration oder Identitätsverlust?
Trotzdem: Hat man es mal im Kopf – Individuum und Gruppe – füllt es sich während des Parcours von Konzert zu Konzert dann doch mit Sinn, und zwar auf je sehr unterschiedliche Art und Weise. Da ist beispielsweise das Projekt der Cellistin Séverine Ballon, die den ganzen Sommer über mit in Donaueschingen lebenden Geflüchteten eine gemeinsame Performance entwickelt hat. Für „Shared Sounds“ bringt jeder eine Melodie, ein Lieblingslied mit. In der Performance bleiben davon allerdings nur noch die geklopften Rhythmen, Flüstern oder Summen übrig. Die einzelnen Lieder bleiben unerkannt, gehen ein in die Gesamtheit der Lieder, das Individuum löst sich in der Gruppe auf.
Vielleicht liegt in dieser stark skelettierten Musik auch ein politisches Statement: positiv gedeutet mag man darin eine Form gelungener Integration erkennen; der Preis dafür ist jedoch die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität. Der schönste Moment der Aufführung ist übrigens der, als Einzelne aus der Gruppe dann doch noch ihre Melodie singen – in aller Unbedarftheit. Erst da erkennt man sie als Individuum.
Zehn Alphatier-Instrumente
Eine ganz eigene Reflexion über das Verhältnis von Individuum und Gruppe steckt bereits in der Besetzung, die Enno Poppe für sein Stück „Streik“ gewählt hat: zehn Drumsets treffen hier aufeinander. Dabei ist das Drumset ein typisches Soloinstrument. Es treibt, wie Poppe es ausdrückt, „die Band an, gibt den Takt vor, ist der Maschinenraum.“ Wie also kann eine Gruppe aus Alphatier-Instrumenten überhaupt funktionieren? Klar ist, es braucht einen Komponisten, um den Selbstdarstellungs-Trieb zu lenken und zu kanalisieren.
Das gelingt Enno Poppe in knapp 60 Minuten eindrücklich. So nutzt er die Verzehnfachung des dennoch nie identischen Instrumentariums so, dass durch die schnelle Abfolge etwa nur auf den Becken oder nur auf den Trommeln plötzlich melodische Linien entstehen. Oder er lässt Rhythmen spielen, die innerhalb der Gruppe ein wenig außer Phase geraten. Dann wieder analysiert er einzelne, instrumententypische Gesten und verteilt sie so auf die zehn Spieler und Spielerinnen, dass das Ergebnis wie ein einziges riesiges Drumset wirkt. Alles in allem: viel Abwechslung innerhalb einer monochromen Besetzung.
Aimard erstmals in Donaueschingen
Allein als Interpret – aber inmitten des um ihn herum gruppierten Publikums: Das war die Konstellation des Konzerts mit dem renommierten Pianisten Pierre-Laurent Aimard. Der Franzose trat zum ersten Mal in Donaueschingen auf – obwohl er ein versierter Interpret Neuer Musik ist. Doch die Interpreten spielen in Donaueschingen traditionell eine weniger große Rolle als die Komponisten und Komponistinnen. Vielleicht ändert sich das jetzt – Aimard jedenfalls wurde für seine Interpretation von Mark Andres „...selig ist...“ enthusiastisch gefeiert.
Das Stück für Klavier und Elektronik (SWR Experimentalstudio) befasst sich – wie eigentlich alle Werke des tief gläubigen Komponisten – mit dem Entschwinden (wie es etwa in der Himmelfahrt Christi zum Tragen kommt) und überträgt dieses auf die Musik. Mindestens so faszinierend wie der Klavierpart ist jedoch der ausgeklügelte Raumklang der Elektronk-Zuspielung. Sie vermittelt tatsächlich etwas von der flüchtigen Präsenz, die Mark Andre vorgeschwebt haben mag.
Die Donaueschinger Musiktage dauern noch bis Sonntagabend, 20. Oktober.