Herr Stadler, zuerst haben Sie Jakob Bräckle und jetzt dem amerikanischen Maler Mark Tobey ein Buch gewidmet. Sie stellen dem Buch, das die Ausstellung im Kunstmuseum begleitet, ein Bräckle-Zitat vorneweg: „Die erste Kunst aller Zeiten ist nichts anderes als Sehnsucht nach einer schöneren Welt“. Ist es das, was die beiden Künstler verbindet?
Dieses Zitat leuchtet gerade heute doch ein! Tobey, der einer der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts ist, kam – wie Bräckle – aus einem kleinen oberschwäbischen Dorf. Die Lebensdaten sind auch parallel. Frühe Kindheit im 19. Jahrhundert, künstlerisches Schaffen dann über das ganze, tragische 20. Jahrhundert verteilt. Das Stille und Unscheinbare, das sogenannte Kleine, haben sie in ihren Bildern als etwas Großes gezeigt. Auf ganz unterschiedliche Weise realisiert, aber doch auf demselben Grund und von einer geistigen Grundlage aus. Doch im Gegensatz zu Bräckle, der laotseartig sein Leben um Winterreute herum verbrachte, war Tobey ein Nomade, der von seinem Dorf am Mississippi aus zeitlebens unterwegs war, und auch in der Kunst ein Pionier, der weltweit wirkte, in allen großen Museen der Welt zu sehen ist, in New York, Washington, Madrid, Paris, Zürich und Basel. Er war als ein Angehöriger der friedfertigen Bahai-Religion und ihres Einheitsglaubens von Mensch und Welt, jenseits von Sprachen und Nationen, diese Botschaft brachte Tobey von seinem ersten Leben am Mississippi mit und trug sie zeitlebens durch die Welt, und auch in seine Bilder. Tobeys Bilderwelt ist gerade heute, in unserem niederschmetternden Frühjahr 2022, eine Einladung, dass wir alle miteinander verbunden sind, dass wir alle eins sind, dass die Menschen sich und ihre Welt nicht zerstören sollen, und bekämpfen „we are all waves to the same sea“. So hätte auch die Ausstellung heißen können, aber diesen Titel gab es schon. Das ist eine von Tobey Haupterkenntnissen, die wir in seinen Linien, die alles mit allem verbinden, auch zu sehen vermögen.
Noch länger als mit Bräckle haben Sie sich mit Tobey beschäftigt, wie Sie schreiben, nämlich vier Jahrzehnte. Nach der Lektüre von „Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey“ wird schnell klar, dass es sich um ein Liebesverhältnis handeln muss.
Jede Liebe beginnt mit einem Blick. Das gilt auch hier. Wie auch für Bräckle, dessen Bilder ich aber erst über zwanzig Jahre nach Tobey kennenlernte. Schuld daran ist die schwäbische Teilung von 1806, gerade am Bodensee, in neue Länder wie Württemberg, Baden und Bayern, die sich bis heute auswirkt. Ich komme ja aus dem „Südkurierland“, aus Rast bei Meßkirch, und da habe ich von Bräckle erst so spät erfahren, weil der in Ihrer Zeitung nicht vorkam.
Sie waren mehrfach auf Spurensuche in Amerika, an den Orten, die für Tobey wichtig waren…
Ja, wohl als einer der wenigen, die Tobey lieben auf dieser Welt. Auch von jenen, die über ihn geschrieben haben, war kaum einer in Trempealeau am Mississippi. Es war schön und auch gut, in Tobeys kleinem Kaff am großen Fluss gefahren zu sein, denn Tobeys Kunst der Linien und des Fließens erschließt gerade sehr schön von da aus.
Einer Ihrer Mentoren, Heinrich Wiegand Petzet, hatte Ihnen 1976 Ihren ersten Tobey geschenkt, eine Radierung. Er war auch sonst wichtig für Ihr Verständnis von Kunst, entnehme ich dem Buch. Er öffnete Ihnen auch die Türe zum berühmten Galeristen- und Sammlerpaar Hildy und Ernst Beyeler in Basel, mit denen Tobey eng befreundet war.
Ja, überaus. Petzet verdanke ich so viel in meinem Leben. Über ihn, der von den späten 1940er Jahren an über viele Jahrzehnte mit den Beyelers befreundet war, kam ich dann auch zu Ernst und Hildy Beyeler, was nun wirklich etwas Ungewöhnliches ist, wenn ich von meinem Leben in Rast aus denke. Und auch wiederum nicht, was Tobey betrifft, denn sein Dorf war ja noch viel ländlicher als mein Dorf es jemals war. Vor allem bei Hildy sah dann auch ich im Lauf der Jahre die schönsten Tobeys. Dessen Bilder sind nun auch in der Fondation Beyeler als Teil des spektakulären, von Renzo Piano entworfenen Hauses zu sehen. Tobey lebte auf Einladung von Ernst Beyeler von 1960 bis zu seinem Tod 1976 in Basel und liegt nun neben den Beyelers auf dem Friedhof am Hörnli in Basel. Er war aber als Nomade auch noch in den späten Jahren von Basel aus unterwegs, auch noch mehrfach in Seattle, von wo aus Tobey seit seinem Umzug von New York seine Weltreisen gemacht hat. In Seattle, wohin er in den Sechziger Jahren aus mit der „Bremen“ nach Amerika fuhr, behielt er sein Atelier.

Mark Tobey ist in Europa populärer als in den Vereinigten Staaten. Liegt das nur daran, dass er seiner Heimat für Jahrzehnte den Rücken kehrte? Er war ja nicht, wie Sie schreiben, ein virtuos in der Öffentlichkeit agierender Promoter seiner eigenen Werke, wie damals Picasso oder heute Anselm Kiefer.
Tobey ist auch in den Vereinigten Staaten berühmt, wenn auch nicht populär. Aber welcher Künstler kann als solcher schon populär sein? Tobeys Bilder sind Bestand sämtlicher großer Museen, auch in New York, zum Beispiel im Museum of Modern Art zu sehen. Freilich haben Tobeys Bilder nichts Sensationsgieriges. Sie sind „inneres Betrachten“. Da kommt es auf den einzelnen Menschen und das Betrachten an. Die Ausstellung im Kunstmuseum ist ein Ereignis, ganz unabhängig von mir.
Sie berichten über die Debatte, ob Jackson Pollock bei Tobey „abgekupfert“ hat, um es salopp auszudrücken. Pollocks Bilder, zumal seine action-paintings, werden zu Unsummen gehandelt. Zu Unrecht?
Keineswegs. Denn das ist doch auch eine Frage der Formate und der Technik. Papier gilt weniger als Leinwand. Tempera weniger als Öl. Tobeys durchweg kleinformatigere Arbeiten auf Papier erzielen bei Sotheby‘s auch enorme, siebenstellige Preise. Und was die eigentliche Arbeit jenseits vom Kunstmarktpreis-Ranking betrifft: Pollock war von Tobeys Arbeiten fasziniert, das ist gut dokumentiert. Das ist gar keine Debatte, sondern Fakt. Er sah die legendäre Tobey-Ausstellung 1944 in New York. Ab da hat er ganz anders gemalt. Diese Tatsache ist ein Faktum, unabhängig davon, ob es ins Bewusstsein der Öffentlichkeit des Kunstbetriebs und seines Publikums vorgedrungen ist. Fragen Sie die Künstler in aller Welt! John Cage, der auf einem langen Spaziergang in Seattle bei Tobey das Sehen und Wahrnehmen der Welt auch in ihren kleinsten Erscheinungen wie Baumrinden, Straßenpflaster oder Kiesel gelernt hat, sagte von Tobey: Er ist unser Picasso. Und Picasso hat ihm ein Bild geschenkt, das er mit „To my friend Tobey“ unterschrieben hat.
Er genoss unter Künstlern einen hervorragenden Ruf?
Aber ja.Tobeys Freund Lyonel Feininger und andere, wie Pollock, Motherwell, Naum Gabo, Cage und viele mehr, haben bis zum heutigen Tag auch über die Faszination geschrieben, die von Tobeys Bildern auf sie ausging. Sie alle kennen ihn, und viele bewundern ihn. Pollock ist Pollock, und Tobey ist Tobey. Mein kleines Buch ist auch nur ein Versuch, meine Faszination auf meine Weise zur Sprache zu bringen. Pollocks Bewegung zielt auf das große Format, und als Maler ist er zweifellos ein Großer, der ebenfalls die Malerei des 20. Jahrhunderts „mitgeschrieben“ hat. Aber als „Action Painter“. Pollock malte mit dem ganzen Körper und stand auf riesigen Leinwänden. Tobeys Bewegung ist mehr geistiger Natur, sie geht aus dem Kopf mit der Hand aufs Papier. Die Größe eines Bildes ist unabhängig von seinem Format. Die Größe Tobeys innerhalb der Kunst besteht auch bei Tobey darin, dass er etwas zum ersten Mal gemacht hat. Gerade in Amerika: das für Pollock so zentrale All-Over –also ein Bild, das kein Zentrum hat und über die ganze Leinwand geht.
Mark Tobeys kleine, stille Bilder sind nicht einfach zu enträtseln. Sie schreiben, dass sie sich jeglicher „Katalogisierung und Einschränkung“ entziehen. Liegen die Autoren von Dutzenden Katalogen mit ihren Texten, die sich an den Bildern versuchen, also komplett daneben?
Das ist kein Widerspruch! Sie sagen es ja selbst: es sind Versuche, die ein unerschöpfliches Faszinosum, das Tobey ist, auf ihre Weise ausloten. Sie alle liegen richtig mit ihren Versuchen, dem Phänomen der Kunst, das heißt auch der Kunst von Tobey näherzukommen. Ein veritables Bild ist nie zu enträtseln, sondern bleibt im Grunde, was es ist: ein faszinierendes Geheimnis. Wir bleiben mit unseren Sätzen immer zurück und können nicht ganz sagen, was es ist. Sonst wäre ein Bild ja etwas Banales und Erklärbares. Etwas Lösbares. Wie ein Kreuzworträtsel. Das Schöne kann nicht enträtselt, also verstanden werden. Es wird aber geliebt. Das gilt für alle, die sich mit Tobey in Satzform befasst haben. Das sind sehr viele. Tobey ist vor allem ein Maler für Maler, und zahlreiche Künstler, angefangen mit Paul Klee, der 1940 starb, über Feininger bis zu John Cage und so weiter.
Ihr Buch ist Ausgangspunkt der kommenden Tobey-Ausstellung im Kunstmuseum Singen. Sie haben auch die Auswahl der Bilder getroffen. Eine kleinere Ausstellung ist in der Galerie Vayhinger zu besichtigen. Was erwartet den Besucher?
In der Galerie Vayhinger werden die grafischen Arbeiten zu sehen sein, ein später Höhepunkt in Tobeys Schaffen. Sie sind alle aus der Sammlung des Grafikers Heinz Richter, der noch mit Gotthard de Beauclair, dem Tobey-Freund und Verleger, und mit Tobey zusammengearbeitet hat. Richter wird auch nach Singen kommen. Im Kunstmuseum, dessen obere Etage wunderbar diesen Bildern entspricht, werden fast ausschließlich einzelne Bilder zu sehen sein, fast 70 an der Zahl, darunter auch sogenannte Ikonen, auch White-Writing Bilder, die Tobey von 1935 an gemalt hat. Alles mit allem, und das Bild ist „geschrieben“, hat kein Zentrum, auch das war etwas Neues in der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts, lange vor Twombly, der Tobey übrigens auch sehr geschätzt hat, was man meines Erachtens auch sehen kann.
Berühmt sind Tobeys von fernöstlicher Malerei und kalligraphischer Kunst beeinflussten „White Writings“, ansprechende Werke in hellen Farben mit filigranen, netzwerkartigen Strukturen in Mischtechnik ausgeführt. Sind die Bilder auch in Singen zu bewundern?
Ja. Auch sie. Die Tobey-Ausstellungen, die von Christoph Bauer im Kunstmuseum, und auch die in der Galerie Vayhinger, sind auf ihre Weise ein Ereignis, glauben Sie mir. Ich bin ganz aufgeregt, denn ich bin als Liebender auch ein Missionar, der will, dass Tobeys Bilder nicht als etwas Elitäres in Singen zu sehen sind, als ein schnell wieder vergessener Event. Vielmehr wird -hier in Singen- sozusagen etwas >der ganzen Welt< geschenkt. So wie der Kuss in Schillers „Ode an die Freude“. Der große Kunsthistoriker und Philosoph Gottfried Boehm hat das ja in seinem Schlusssatz für den 100. Geburtstag von Tobey in dem wunderbaren Gedenkkatalog der Galerie Beyeler am 11. Dezember 1990 so gesagt: „Tobeys Universalismus gibt vielen Bildern etwas Strahlendes, eine Ahnung von Glück. Wir sind mit unseren eigenen Augen eingeladen, diesen Wegen der Erfahrung zu folgen“.
Warum Singen?
Es ist eine schöne Vorstellung von mir, dass diese in Singen gezeigten Bilder bei den Besuchern des Kunstmuseums als etwas Unvergessliches – das ist für mich die Hauptdefinition eines Kunstwerks – zurückbleiben, wie von einem bewegenden Film auf dem Nachhauseweg, und lange darüber hinaus. Mir ist es wichtig, dass in Singen ein Künstler zu sehen ist, der ohne jede Voraussetzung von allen geliebt werden kann, die Bilder, von denen man sagt, sie seien Kunst, und gesehen werden sollte. Es ist keinerlei Vorkenntnis nötig, die Augen genügen. Das weiß ich von Tobey, der ja auch als Lehrer an der einflussreichen, advantgardistischen Cornish School in Seattle arbeitete. Seinen Schülern sagte er, sie sollten ganz frei an ihre Arbeit herangehen. Keinerlei Voraussetzung verlangte er. Und so sollte es auch in Singen sein: Was die Besucherinnen und Besucher auf der anderen Seite ihrer Augen sehen werden, ist die Welt. Mein Buch heißt ja auch von da: „Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey.“
Der Autor – Die Ausstellung
Arnold Stadler wurde 1954 in Mekirch geboren. Er lebt in Rast im elterlichen Bauernhaus, in Sallahn im Wendland und in Berlin. Zuletzt ist sein Roman „Am siebten Tag flog ich zurück“ erschienen. Für sein umfangreiches literarisches Werk erhielt er u.a. 1999 den renommierten Büchner-Preis.
Der Maler Mark Tobey wurde 1890 in Centerville (USA) geboren, er starb 1976 in Basel, dort liegt auch sein Grab. Tobey gilt als Wegbereiter des amerikanischen „Abstrakten Expressionismus“.
Die Tobey-Ausstellung im Kunstmuseum Singen wird am Sonntag, 3. April, 11 Uhr, eröffnet, sie dauert bis 19. Juni. Parallel dazu zeigt die Singener Galerie Vayhinger das grafische Werk des Künstlers.
Zur Ausstellung ist ein Katalogbuch von Arnold Stadler unter dem Titel „Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey. (opi)
Weitere Infos: http://www.kunstmuseum-singen.de bzw. http://www.galerie.vayhinger.de