Stellen Sie sich einen Burger vor. Hackbulette zwischen Weißbrot, darüber tropfen im Baukastensystem Tomate, Käse, Blattsalat und wunderbar karamellisierte Zwiebeln. 180 Gramm Fleischeslust, in die Sie nun genüsslich beißen, die Sie kauen und schlucken. Nur ist das, was Sie gerade verzehren, kein Rindfleisch. Sie essen einen Golden Retriever.

Spätestens jetzt dürften Sie die Bulette als totes Tier empfinden. Wahrscheinlich fühlen Sie Ekel, denn Ihre Wahrnehmung auf das Fleisch hat sich geändert: Erst Rind, ein Nutztier, Lebensmittelindustrie. Dann Bello, Haustier, kuscheliger Mitbewohner. Für veganaktivistische Kritiker öffnen sich hier die Schubladen der Doppelmoral, aber lassen Sie uns zunächst noch wertfrei bleiben.

Um nämlich genau dieses widersprüchliche Verhältnis zu Fleisch zu beschreiben, hat die amerikanische Sozialpsychologin Melanie Joy den Begriff Karnismus eingeführt. Dahinter steht ein mehr oder weniger unsichtbares System aus Überzeugungen, das uns von Kind auf dazu konditioniert, bestimmte Tiere zu essen, Kühe zum Beispiel, und andere eben nicht.

Ein Wertekonstrukt, das beeinflusst, wie wir über Fleisch denken. Eine Ideologie, die von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann. Die aber genauso anwendbar auf die Weltanschauung ist, wie wir sie hinter Vegetariern oder Veganern vermuten. Schließlich haben wir, anders als früher, anders als wirtschaftlich benachteiligte Staaten, eine Wahl, was wir essen und was nicht.

Kein Monopol auf Nährwerte

Nüchtern betrachtet, brauchen wir kein Fleisch. Fleisch hat kein Monopol auf Nährwerte. Es ist heutzutage anstrengungslos möglich, sich ohne tierische Produkte zu ernähren, auch dank Nahrungsergänzungsmitteln. Vorteil des Menschen ist es, dass er ein Allesfresser ist.

Er kann ohne Fleisch leben, will es in vielen Fällen nicht, muss es aber. Der Sonderbericht des Weltklimarats lässt da keinen Raum für Interpretationen. Nichts davon ist wirklich neu. Nur nimmt die Dichte und Reichweite von Erkenntnissen zu, die gleichlautend eines verkünden: Fleisch ist ein ökologischer Schadstoff. Ein Klimakiller. Ungesund.

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Es ist also nicht wurscht, ob unsere Zukunft eine fleischarme ist, eine fleischlose oder eine mit Koteletts und Schnitzeln. Bezeichnenderweise hat sich der weltweite Fleischkonsum in den vergangenen 20 Jahren aber mehr als verdoppelt – 2018 erreichte er 320 Millionen Tonnen.

Die Bevölkerung ist gewachsen, die Einkommen sind gestiegen, Faktoren, die die Zunahme zu ungefähr gleichen Teilen verursacht haben. Obwohl die Zahlen in den Industriestaaten leicht zurückgehen, essen heute neun von zehn Menschen in Europa Fleisch. Bedenken bezüglich Gesundheit, Tierwohl und Umwelt indes wachsen.

Der Mensch steckt da in einem Dilemma. Entsprechend tut es die Politik. Seit vor dreißig Jahren die Grünen mit der Forderung nach einem Benzinpreis, der alle Umweltkosten einrechnet, aus dem Bundestag geflogen waren, scheuen Politiker vor ähnlichen Maßnahmen nicht bloß beim Fleisch zurück.

Man setzt auf Selbstverpflichtungen bei der Agrarindustrie, auf Tierwohlsiegel. Geholfen hat bisher so gut wie nichts, und es ist schwer zu sehen, weshalb sich das in Zukunft ändern sollte, wenn kein Veggieday ohne den politischen Konter bleibt, einen Freiheitsentzug für mündige Bürger zu wittern.

Es bleibt also an der Ideologie. Eine, für die sich immer mehr Menschen öffnen müssen – und es auch tun, solange es ihnen schmeckt. Das zeigt der Fleischatlas der Heinrich-Böll-Stiftung. Demnach kauften die Deutschen im Jahr 2012 noch etwa 11.000 Tonnen Fleischersatz-Produkte, nur sieben Jahre später waren es bereits 26.600 Tonnen.

Alternativen, die mit weniger Wasser, weniger Treibhausgasen produziert werden, wie das Umweltbundesamt belegt. Während ältere Menschen die Wurst noch in der Breite brauchen, vergeht vor allem den Jungen die Lust am Fleisch immer mehr: Fast 13 Prozent der 15- bis 29-Jährigen in Deutschland leben vegetarisch oder vegan. Die Tendenz? Steil steigend.

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Grund für eine fleischlose Ernährung der jungen Leute ist laut einer Umfrage von POSpulse vor allem eins: das Tierwohl. Ja klar, wer Fleisch essen will, muss töten. Was uns wieder zum Burger bringt, und dem Rind. Oder dem Golden Retriever.

Prinzip des Karnismus hat sich überholt

Wertekonstrukte, die uns immer vermittelt haben, dass Fleisch normal ist und notwendig und natürlich, die werden aufgebrochen. Gespalten von einer jungen Generation, die begriffen hat, was Menschen mit ihrem Konsum in der Umwelt anrichten. Die auf die Straße geht für das Klima, auf Eier verzichtet für das Tierwohl.

Für sie hat sich das Prinzip des Karnismus überholt, der das Fleisch von einem tierischen Individuum entkoppelt. Weder der Hund noch die Kuh sind für sie reine Fleischlieferanten, sondern Tiere, die fühlen, atmen und leben sollen. Mit ihr verwächst sich also die Fleischeslust der Gesellschaft, schafft sich in stillem Konsenz nicht überall, aber in Teilen der Menschheit ab.

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Die Utopie vom gänzlich fleischlosen Leben lässt sich dadurch natürlich nicht beschwören. Aber ein verträglicher Konsum, der der industriellen Nutztierhaltung etwas Idylle vorhalten kann, während Wissenschaftler schon am nächsten Schritt der Lebensmittelevolution basteln. Das Reagenzglas soll die Weide ablösen. Als In-Vitro-Fleisch, das im Labor gezüchtet wird. Das übrigens schon jetzt keine Science-Fiction mehr ist, sondern wissenschaftliches Bestreben mit soliden Ergebnissen und ersten Zulassungen in den USA.

Das Good Food Institute, der Think Tank dieser jungen Branche, listet 107 Unternehmen auf, die heute daran arbeiten, tierische Produkte wie Fleisch und Milch auf Basis zellulärer Landwirtschaft herzustellen. Irgendwann könnte es den Menschen dann tatsächlich seltsam erscheinen, dass Vorfahren einst für Fleisch getötet haben. Ganz unabhängig davon, ob es eine Kuh oder ein Golden Retriever war.