Herr Junkerjürgen, die Geschichte der Bundesrepublik ist ohne Winnetou kaum vorstellbar. Warum war ausgerechnet ein erfundener Apachen-Häuptling für Westdeutschland so wichtig?
Die emotionale Bedeutung des Winnetou-Mythos ist tatsächlich sehr eng mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verknüpft. Die Winnetou-Filme haben das wichtigste Ziel der Regierung Konrad Adenauers, die Integration in die westliche Völkergemeinschaft, gerade dank der beiden Hauptdarsteller perfekt verkörpert: hier der Franzose Pierre Brice, dort der US-Amerikaner Lex Barker. Sie repräsentieren eine historische Normalisierung.
Wie meinen Sie das?
Im Dezember 1962 war die Premiere des ersten Winnetou-Films, „Der Schatz im Silbersee“. Wenige Wochen später, im Januar 1963, haben Adenauer und Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag unterschrieben, der die deutsch-französische Freundschaft besiegelte, und im Juni desselben Jahres hat John F. Kennedy verkündet, er sei ein Berliner.
Wo kurz zuvor noch Heimatfilme die hiesigen Kinos dominiert hatten, wirkte der deutsche Film plötzlich sehr international. Hinzu kamen die inhaltlichen Motive, die schon die Bücher des Spätromantikers Karl May ausgezeichnet hatten, allen voran Zivilisationskritik und Flucht aus der provinziellen Enge.
Warum übt Winnetou bis heute eine derartige Faszination auf Sie aus?
Ich bin Jahrgang 1969, also zu jung, um die Filme im Kino erlebt zu haben, meine Sozialisation erfolgte durchs Fernsehen. Ich habe „Der Schatz im Silbersee“ mit fünf oder sechs Jahren das erste Mal gesehen, allerdings nur wenige Minuten, dann musste ich ins Bett, doch diese Szenen haben genügt, um mich zutiefst zu beeindrucken.
Heute weiß ich, dass mich die Ästhetik der Bilder ebenso fasziniert hat wie die Musik von Martin Böttcher, die für mich eine Fortführung der romantischen Sinfonien und der Opern des 19. Jahrhunderts ist. Die Musik löst heute noch eine tiefe Sehnsucht in mir aus.
Wie erklären Sie sich, dass damals eine komplette Generation derart hingerissen von den Filmen war?
Ein ganz entscheidender Aspekt ist das Aufkommen einer eigenen Jugendkultur, die maßgeblich von der „Bravo“ geprägt worden ist. Die Zeitschrift und die Filme haben wechselseitig ganz erheblich voneinander profitiert. Niemand war so oft auf dem Titel wie Pierre Brice.
Warum ist Winnetou für Sie ein Mythos?
Ein Mythos bewegt sich zwischen den beiden Polen Religion und Unterhaltung. Im Unterschied zur Religion ist ein Mythos jedoch lebendig, man kann auf spielerische Weise mit ihm umgehen. Kein Kind käme auf die Idee, die Geschichte von Jesus Christus nachzuspielen.
Eine Parallele zwischen Jesus und Winnetou gibt es allerdings doch: Dass der Häuptling zum Mythos werden konnte, hat untrennbar auch mit seinem Tod zu tun. Figuren der populären Kultur sterben normalerweise nicht. Dass Winnetous Tod nicht negiert wird, hat die existenzielle Kraft des Mythos‘ noch verstärkt. Die Filme zeigen ohnehin keine heile Welt, sie sind geprägt von Trennung, Verlust und Tod.
Die zeitgenössische Kritik hat damals einigermaßen wohlwollend reagiert. In späteren Jahren wurde der Ton schärfer. Teilen Sie das Urteil Western-Kitsch?
Dieser Begriff ist völlig deplatziert. In ästhetischer Hinsicht haben gerade die Filme von Harald Reinl, der nach „Der Schatz im Silbersee“ auch die Winnetou-Trilogie inszeniert hat, Maßstäbe gesetzt. Als ehemaliger Wintersportler hatte er ein unglaublich gutes Gespür für gebirgige Landschaften.
Bei meinen Reisen zu den Schauplätzen in Kroatien ist mir erst bewusst geworden, welche logistischen Herausforderungen die Filmteams zu bewältigen hatten, weil viele Drehorte in den Bergen nur über Trampelpfade zu erreichen waren. Im Ausland sind die Filme übrigens zum Teil deutlich besser besprochen worden. Hierzulande konnte gerade die linksintellektuelle Filmkritik nichts mit den Karl-May-Verfilmungen anfangen.
Ein anderer Kritikpunkt lautete, es handele sich um eine weitere Spielart des Heimatfilms. Können Sie das nachvollziehen?
Nein. Dieses Genre, das die 50er-Jahre dominiert hat, ist nicht zuletzt im Hinblick auf die vielen Millionen Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten produziert worden. Die Geschichten waren von einer „Blut und Boden“-Haltung geprägt, in der mitunter sogar noch nationalsozialistisches Gedankengut mitschwang.
Wie würden Sie heute auf die Filme schauen, wenn Sie Mitte 20 wären?
Ich würde sie natürlich ganz anders sehen. Die jungen Leute haben einen sehr sensiblen Blick für Gender-Profile und Diskriminierungen, aber die Filme lassen sich nur aus dem Kontext ihrer Entstehungszeit heraus verstehen. Wenn wir alles nur durch heutige Filter betrachten, bleibt nichts mehr übrig und wir werden geschichtsblind.