Theater mit Puppen ist nicht automatisch harmloses Kindertheater. Das ist die erste Erkenntnis, die man aus der Aufführung von Johannes Kalitzkes Oper „Kapitän Nemos Bibliothek“ bei den Bregenzer Festspielen mitnehmen kann. Wer also leichte Unterhaltung im Sinne einer „Zauberflöte“ für Marionettentheater erwartet, dürfte enttäuscht werden. Dabei geht es in „Kapitän Nemos Bibliothek“, für das Julia Hochstenbach das Libretto nach dem gleichnamigen Roman von Per Olov Enquist verfasst hat, tatsächlich um zwei Kinder – aber auch um die Aufarbeitung eines Traumas.
Zwei Jungen werden nach ihrer Geburt verwechselt, wachsen aber als Freunde in einem kleinen schwedischen Dorf auf. Sie sind bereits zehn oder elf Jahre, als der Irrtum bekannt wird, woraufhin sie nun zurückgetauscht werden. Für die streng pietistische Dorfgemeinschaft ist Gottes Ordnung damit wiederhergestellt. Die Kinder allerdings wirft dieses traumatische Erlebnis in eine Sinnkrise, die geprägt ist von dem Gefühl der Ablehnung, Eifersucht auf den anderen Jungen und der Frage nach der eigenen Identität.
Schmerzpunkte der Kindheit
Die Geschichte wird aus der Perspektive des nicht näher benannten „Ich“ erzählt, der – inzwischen älter geworden – sich mit den „Schmerzpunkten“ seiner Kindheit konfrontiert. Und das sind einige: Die Ablehnung durch die „falsche“ Mutter, die für „Ich“ auch noch nach dem Rücktausch seine eigentliche Mutter bleibt; die psychische Krankheit seiner leiblichen Mutter, die schließlich in einer Psychiatrie stirbt; die aufkeimende Liebe zu der sechs Jahre älteren Eva-Lisa, die von einem Jungen aus dem Dorf geschwängert wird und bei einer Fehlgeburt stirbt; schließlich das Verhältnis zu Johannes, den „Ich“ nach dem Rücktausch mehrfach als Verräter bezeichnet.

In dieser Konstellation kommen nun die beiden Puppen ins Spiel – eine Anfertigung eigens für diese Oper (Puppenbau: Louise Nowitzki), die im April bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt worden ist. Sie sind lebensgroß und stellen die beiden Kinder dar, während ihre älteren Versionen von dem Countertenor Iurii Iushkevich (Ich) und der Sopranistin Johanna Zimmer (Johannes) gespielt und gesungen werden. Oft stehen alle zusammen auf der Bühne (gemeinsam mit den schwarz gekleideten, also quasi unsichtbaren Puppenspielern und -spielerinnen Ines Heinrich-Frank, Franziska Rattay, Lars Frank und Nico Parisius). Das ermöglicht es, beide Zeitebenen parallel am laufen zu halten und einen Bild dafür zu finden, wie hier jemand seine eigene Vergangenheit aus der Distanz betrachtet, sie neu erlebt, aber auch reflektiert, kommentiert und einordnet. Die stummen Puppen verstärken dabei den Eindruck des passiven Erlebens und der Hilflosigkeit seitens der Kinder – ein Konzept, das wunderbar aufgeht und in der Inszenierung von Christoph Werner schlüssig umgesetzt ist.

Hinter dem Operntitel „Kapitän Nemos Bibliothek“ versteckt sich ein doppelter Bezug: Er verweist auf die Vorlage, das Buch von Enquist, das sich seinerseits auf den Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“ von Jules Verne bezieht, in dem ein Kapitän Nemo mit seinem Unterseeboot Nautilus durch die Weltmeere kurvt. Auch Johannes und „Ich“ tauchen immer wieder ab in ihrer Nautilus – einer Metapher für Rückzug und Reflexion. Ausstatterin Angela Baumgart hat das Bühnenbild daher wie eine große U-Boot-Halbkugel angelegt, wobei Video-Projektionen (Conny Klar) in den U-Boot-Fenstern die Ortswechsel andeuten: die Kirche, das grüne Haus, in dem „Ich“ aufwächst, und eben der Meeresgrund.
Hier, wo „Ich“ und Johannes ihre Kindheit aufzuarbeiten versuchen, gönnt Komponist und Dirigent Johannes Kalitzke ihnen immer wieder Momente der Ruhe von einer Musik, die oft von einer subkutanen Nervosität getrieben wird. Das Ensemble Modern ist dabei ganz schön gefordert, meistert die Ansprüche aber souverän und belohnt sein Publikum mit einer vielschichtigen Musik, die für die unterschiedlichen Handlungsstränge je eigene Klangwelten findet – das reicht von Assoziationen an Bach-Choral und Passionsgeschichte über irrwitzige Vokaleinlagen für die psychisch kranke Mutter Alfild (großartig: Noa Frenkel) bis zu mystisch verklärten Schwebeklängen, wenn die beiden Jungen das grüne Haus in Brand setzen und so ihre Vergangenheit hinter sich lassen.

Am Schluss ist übrigens auch Johannes tot. Aber so ganz genau weiß man das nicht. Möglicherweise waren „Ich“ und Johannes auch zwei Seiten ein und desselben Jungen, der sich nun mit sich selbst ausgesöhnt hat. Die Geschichte wäre dann vielleicht gar nicht die einer Verwechslung gewesen, sondern die eines schmerzhaften Erwachsenwerdens. Oder wie es „Ich“ am Schluss formuliert: „Wer hat denn gesagt, dass es zu verstehen ist?“ Das gilt auch für diesen zugleich berührenden und fordernden Opernabend.
Weitere Aufführung: 29. Juli, 20 Uhr, Werkstattbühne Bregenz. Infos: http://www.bregenzerfestspiele.com