Herr Professor Krüger, wann kommt es zu einer Blutvergiftung, im Fachjargon Sepsis?
Ursache kann eine Lungenentzündung sein, eine Harnwegsinfektion, eine Infektion im Bauchraum, beispielsweise durch eine Blinddarmentzündung. Eine Sepsis kann auch durch eine Infektion bei einer Verletzung auftreten oder von einem zentralen Venenkatheter auf der Intensivstation ausgehen. Die Ursachen sind vielfältig, und sie können beispielsweise in Afrika ganz anders sein als bei uns. Früher trat eine Sepsis auch auf, wenn bei der Geburt unsteril gearbeitet wurde, dann entstand das Kindbettfieber, an dem viele Mütter starben.

Wie äußert sich eine Sepsis?
Kommt darauf an, wo der Herd ist. Ein Sepsis-Patient mit einer Blinddarmentzündung wird zum Arzt gehen, weil er Bauchschmerzen hat. Ein Patient mit einer Lungenentzündung fühlt sich krank und abgeschlagen und einen tiefen Husten spüren, der sich anders anfühlt als bei einer Bronchitis. Ein Patient mit einer Urosepsis, bei der die Harnwege kein Ablaufen des Urins erlauben, hat möglicherweise starke Schmerzen in der Flanke, dort wo die Nieren sind, und er wird wohl auch mit höchstem Fieber und Schüttelfrost zum Arzt gehen. Und eine Sepsis aufgrund von Gallensteinen wird kolikartige Bauchschmerzen und Schüttelfrost auslösen.
Also lässt sich eine Sepsis gut diagnostizieren?
Es gibt eben auch viele Fälle, die schleichend sind. Gerade ältere Menschen haben oft nicht so hohes Fieber. Es kann vorkommen, dass ein 80-jähriger Patient gar kein Fieber zeigt, obwohl er eine Lungenentzündung hat. Dafür zeigt er Anzeichen von Verwirrtsein.
Liegt darin die Heimtücke einer Sepsis, dass sie nicht immer gleich erkannt wird?
Ja, die Sepsis wird oft nicht erkannt. Es gibt natürlich auch grauenhafte Fälle, in denen der Patient vollkommen gesund war und von einer auf die andere Stunde schwerstes Organversagen bekommt. Etwa bei einer Infektion mit Streptokokken, die wir unter anderem im Mundraum haben. Wenn die ins Muskelgewebe eindringen, können sie sich rasch ausbreiten. Einem erfahrenen Intensivmediziner fällt sehr schnell auf, dass bei diesen Patienten etwas nicht stimmt: Die Haut ist blass und unregelmäßig gescheckt, er ist kaltschweißig. In der hausärztlichen Praxis kann es passieren, dass eine Sepsis bei Patienten, die mit einem sehr bunten Bild an Symptomen ankommen, übersehen wird. Um die Patienten früher herauszufischen, hat man den Quick SOFA Score entwickelt, bei dem bestimmte Merkmale getestet werden.
Wie gehen Sie bei einer Blutvergiftung vor?
Der erste Schritt ist, die Sepsis zu erkennen. Wenn ich diese Diagnose stelle, müssen wir schnell handeln. Bei der Intensivmedizin sprechen wir von einer Bündelstrategie, deren Ziel ist es, innerhalb der ersten Stunde Blutkulturen abzunehmen, Antibiotika zu geben, das Laktat (Milchsäure) zu bestimmen, und dem Patienten Infusionen zu geben. Wenn die Sepsis weiter fortgeschritten ist, kommen organunterstützende Maßnahmen wie die Beatmung hinzu. Ergibt die Diagnostik beispielsweise ein Loch im Darm, ist schnellstmöglich der Chirurg gefragt.
Ist eine Blutvergiftung tödlich, wenn sie nicht behandelt wird?
Es gibt nie 100 Prozent in der Medizin, aber völlig klar ist: Wenn man die Antibiotika-Therapie verzögert, steigt das Risiko des Versterbens an.
Und wie lange kann ein Mensch mit einer Sepsis überleben?
Natürlich gibt es Statistiken und üblicherweise wird ein Score, ein Punktwert errechnet. Aber das ist nicht hilfreich. Denn selbst wenn das Sterberisiko 80 Prozent beträgt, habe ich ja nicht gerade 100 Patienten vor mir, sondern ich habe immer nur einen Patienten da und ich weiß nie, in welche Gruppe er gehört. Dabei hoffe ich natürlich immer für den Patienten, dass er zu der Gruppe gehört, die überlebt. Hinzu kommen auch sehr schwierige ethische Fragen, mit denen wir uns in der Intensivmedizin auseinandersetzen müssen. Nehmen wir nur ein Beispiel: Wenn jemand hochbetagt ist und schon sehr oft zu uns gekommen ist, wie weit geht man in der Therapie? Gilt es vielleicht, in enger Absprache mit Verwandten,auch an die Palliativmedizin zu denken? Der Patient muss schmerzfrei sein, er darf nicht leiden, darf keine Atemnot haben.
Ist eine Sepsis bei älteren Menschen gefährlicher?
Ja, das Risiko steigt mit dem Alter an. Der ältere Mensch hat nicht mehr so viel Kraft, Immunabwehr entgegenzusetzen. Tückisch ist aber auch, wenn ein sehr junger Mensch eine Sepsis bekommt. Dann wird auch schon mal ein solcher Zustand sehr lange toleriert. Junge, gesunde Menschen können eine schwere Lungenentzündung oder einen Blinddarm-Durchbruch sehr viel länger aushalten. Dann kommen sie oft sehr spät in die Klinik, wenn sie wirklich am Ende sind. Oft wäre es sehr viel besser gewesen, sie wären zwei Tage früher gekommen. Dann wäre der Verlauf bei weitem nicht so schwer gewesen.
Inwiefern sind multiresistente Keime ein Problem bei einer Sepsis?
Antibiotika sollen den Infektionsherd treffen. Sie treffen aber immer auch Bakterien in unserem Körper, die an der Infektion gar nicht beteiligt sind. Wenn wir jetzt ein Antibiotikum geben, hat das zur Folge, dass zahlreiche Erreger im Darm, im Mund, auf der Haut abgetötet werden. Wenn diese weg sind, können resistente Erreger den Darm, die Mundhöhle, die Haut besiedeln. Das nennt man Selektionsdruck. Wir haben mit dem Antibiotikum nicht primär die Erreger resistent gemacht, sondern die zu uns gehörenden Bakterien sind weg und logischerweise bleiben die anderen übrig. Antibiotikaresistente Bakterien gibt es schon seit Jahrmillionen. Die Herausforderung für uns in den Kliniken ist, dass sie nicht vom einen auf den anderen Patienten übertragen werden dürfen. Neben den Hygienemaßnahmen ist ein kluger Einsatz der Antibiotika gefordert.
Das Forschungsnetzwerk Biolago am Bodensee könnte die Bekämpfung von Blutvergiftungen revolutionieren. Was erhoffen Sie sich von den Ergebnissen?
Bei schwer kranken Patienten unserer Intensivstation lassen wir die Blut-Konzentration der Antibiotika mit einem Spezialverfahren im Labor messen und gleichen dies mit den Empfindlichkeitstestungen der Erreger ab. Dadurch erreichen wir eine bessere Therapie der Sepsis, vermeiden Nebenwirkungen und verhindern, dass die resistenten oder auch weniger empfindlichen Bakterien eine Chance bekommen. Das Messverfahren ist jedoch sehr aufwändig für das Labor. Mit dem Projekt soll ein Verfahren entwickelt werden, das jedes normale Labor in die Lage versetzt, die Antibiotika-Konzentration schnell und rund um die Uhr zu messen.
Hoffnung für Hunderttausende Patienten
Das Gesundheitsnetzwerk BioLAGO mit Sitz in Konstanz könnte die Behandlung der Sepsis revolutionieren
Forschung stagniert seit Jahren: Mehr als 1400 Menschen sterben am Tag weltweit an einer Blutvergiftung. Damit ist die Sepsis eine der häufigsten Todesursachen. Die Zahlen zeigen, dass die Krankheit häufig unterschätzt wird. Denn laut Umfragen wissen nur 15 Prozent der Menschen in Europa und USA etwas über die Sepsis. Die Medizin hat hier schon große Fortschritte gemacht: Die Entdeckung des Penicillins im vergangenen Jahrhundert war ein gewaltiger Sprung nach vorn. Doch die Forschung stagniert. Der Sepsis-Tod kommt meistens schleichend. Ein Problem dabei: Die Sepsis wird oftmals zu spät erkannt. Die Krankheit kann binnen 48 Stunden zum Tod führen.
Hilfe für Tausende Patienten in Deutschland: Experten schätzen, dass allein in Deutschland jährlich bis zu 20 000 Sepsis-Patienten vor dem Tod bewahrt werden könnten, wenn die Blutvergiftung rechtzeitig und effektiv behandelt würde. Zahlen wie diese spornen das Gesundheitsnetzwerk Biolago mit Sitz in Konstanz an, das sich dem Kampf gegen Sepsis verschrieben hat. Mit dem Forschungsprojekt Diabkon wollen mehrere Unternehmen in Zusammenarbeit mit Kliniken einen diagnostischen Test entwickeln, der die Wirkung von Antibiotika erhöht. Das sind die Hoffnungen der Beteiligten, deren auf drei Jahre angelegte Forschungsarbeit vom Bund mit 1,8 Millionen Euro bezuschusst wird.
Biolago in Konstanz koordiniert: Den Anstoß dazu gaben zum einen der Konstanzer Chefarzt Wolfgang Krüger, ein Spezialist bei der Behandlung von Sepsis-Patienten, der seit Mitte der 90er Jahre über Antibiotika forscht, und das im Bereich des Konstanzer Klinikums ansässige Labor Dr. Brunner, in dem die Blutproben auch von Sepsis-Patienten analysiert werden. Projekt-Partner aus Medizin, Industrie und Forschung sind unter anderem das Klinikum der Ludwigs Maximilian Universität München und das KIT (Karlsruher Institut für Technologie) – durchaus klangvolle Namen also. Aber es geht auch um Geld. In Zeiten explodierender Gesundheitskosten werden die Behandlungskosten in Kliniken auf über 5 Milliarden Euro geschätzt.
Ziel ist ein einfaches und schnelles Messverfahren: „Wir haben schon lange Routine, was Messungen angeht,“ sagt Simone Brunner-Zillikens. „Aber das ist sehr aufwendig und machbar nur durch hoch spezialisierte Mitarbeiter“, erklärt die Geschäftsführerin des Labors Dr. Brunner. Daher ist ein Ziel des Projekts, ein Verfahren zu entwickeln, das möglichst einfach zu handhaben ist und das schnelle Ergebnisse liefert. Gelingt das, dann wäre das ein großer Schritt im Kampf gegen die Sepsis nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit.
Biolago-Vorstand Michael Steinwand: „Für das Projekt haben wir ein starkes Team aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammengebracht. In der Umsetzung zu einem Produkt durch das Diagnostikunternehmen DRG hoffen wir, das entwickelte Verfahren im Klinikalltag einführen zu können“, so Steinwand. „Wir versprechen uns davon einen wesentlichen Beitrag zur Senkung des Sterberisikos bei Sepsis.“