Nach einer Stunde ist der Otto schon beim Du. Wer ihn in seiner Behausung hoch über dem Städtchen Wolfach aufsucht und den feuchten Waldweg gemeistert hat, betritt eine andere Welt. Alles Förmliche ist vergessen, Titel spielen hier keine Rolle. Bruder Otto öffnet die Tür an dem Haus mit den roten Geranien und den gelben Schindeln und begrüßt den Besucher mit breitem Lächeln. Ein großer Mann im Vollbart. Ein gütiger bis forschender Blick, dazu riesige Hände.
Hier ist er Mädchen für alles
Seit einem guten Jahr wohnt Otto Stahl, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, in der Klause St. Jakobus. Dieser spirituelle Ort auf einer Lichtung im Hochwald ist gar nicht so klein. Er besteht aus einer barocken und geräumigen Kapelle, einer großen Wiese zum Rasten, einem Wohnhaus für den Eremiten sowie dem kleinen Gästehaus für Selbstversorger. Das alles zählt zu Ottos Reich. Dort waltet und schaltet er, er füllt es mit Leben.

Zuletzt wohnten zwei strenge Nonnen hier; manche Einheimischen sagen auch: Sie hausten. Nach ihrem Tod bewarb sich Otto für bei der katholischen Gemeinde und erhielt den Zuschlag. Er schien den Wolfachern der richtige Mann zu sein: Er kann zupacken und hat eine Ausstrahlung, die anderen Menschen gut tut. Zudem schöpft er aus einer seltenen Quelle: Er hat Zeit.
Sein Labyrinth führt zum Ziel
Es gibt keine Schule, die auf die Einsamkeit vorbereitet. Kein Lehrgang lehrt, was ein Einsiedler tut, wie früh er aufsteht, wann er betet und wann kocht. Bruder Otto hat seinen persönlichen Stundenplan ausgetüftelt. Nach langem Suchen fand er die Ideallinie. Sein Labyrinth, das zum Ziel führt.
Er hat schon vieles erlebt und ausprobiert. Der 62-Jährige stammt aus Vöhrenbach im Schwarzwald-Baar-Kreis. Er spricht den hiesigen Dialekt, kennt die Mentalität. Der überzeugte Schwarzwälder ist von Haus aus Schriftsetzer. Zeitweise verkleidete er sich als Punker und mischte bei den Hausbesetzungen in Freiburg mit. Später arbeitete er als Drucker und leitete eine Druckerei, die in guten Zeiten Tausende von CD-Booklets herstellte. Otto schmunzelt: „So etwas läuft heute nicht mehr.“

Dann kam die geistliche Wende: Aus Herr Stahl wurde Bruder Otto, der sich für nichts zu schade ist. Er trat bei den Franziskanern in Bayern ein. Später wechselte er zum Lazarus-Orden, auch diesen verließ er. Immer blieb das Gefühl: Die Richtung passt, aber der gewählte Weg stimmt nicht.
Er lernte Zen-Meditation in Japan
Er suchte weiter und wurde in Japan fündig. Dort klopfte der spirituelle Nomade bei einem Zen-Kloster an, um einige Tage zu rasten und etwas über fernöstliche Meditation zu erfahren. Die Zen-Mönche behielten ihn gleich. Bruder Otto blieb knapp drei Jahre, bevor er sich von den stets freundlichen Meistern verabschiedete. Bis heute bleibt er deren Praxis treu.
Während des Gesprächs fließen immer wieder die zentralen Begriffe des Zen-Buddhismus ein. Der Bruder verdeutlicht diese Worte mit kurzen, kraftvollen Gesten. Wir sitzen in der Küche und Bruder Ottos rechte Hand fährt plötzlich senkrecht nach unten, also ob sie einen Ziegel spalten wollte. „Das bedeutet Mu“, sagt er. „Im Zen steht das für die Abwesenheit, für das Nichts.“ Erst Mu, dann die Gottesmutter Maria. Das Gespräch mit Bruder Otto springt zwischen Ost und West.
Leben wie die Wüstenväter
Seine Klause St. Jakob sieht wie ein kleines einfaches Kloster aus. Er kann dort schalten und walten ohne Vorgesetzten. Er sagt: „Wir leben nach den Wüstenvätern“ – den Männern also, die in der Frühzeit des Christentums in italienischen Höhlen oder der ägyptischen Wüste hausten. Ansonsten ist er sein eigener Herr. Klare Ansage dazu: „Der Bischof hat mir nichts zu sagen.“

Wie in alles in Deutschland sind auch die Klausner organisiert. Bruder Otto ist stellvertretender Vorsitzender dort. Er berichtet von den Tagungen und dem schier Unmöglichen: Menschen, die alleine leben wollen, treffen sich als Gruppe. In diesem Kreis lernte er auch einen anderen Einsiedler in Südbaden kennen – Bruder Jakobus Kaffanke. Der Benediktiner lebt auf dem Ramsberg bei Großschönach (Bodenseekreis).

Die Arbeit als Altenpfleger
Wenn er in seiner dunklen Kutte vor seiner Klause sitzt und erzählt, könnte man ihn für einen Müßiggänger halten. Der Eindruck täuscht. Bruder Otto muss für seinen Lebensunterhalt sorgen, er sagt: „Wir Eremiten müssen unseren Unterhalt selbst verdienen.“ Er hat keine pfarrliche Anstellung und deshalb kein kirchliches Einkommen. Sein Geld verdient er als Altenpfleger im evangelischen Brenzheim in Wolfach. Das ist sein Brotberuf. Außerdem freut er sich über Spenden, an die ein dezenter Schriftzug erinnert. Nicht jeder Besucher versteht den Wink.
Inzwischen sitzen wir in der Küche. Sie ist sparsam eingerichtet. Die Schwestern nahmen damals noch die letzte Pfanne mit, als sie die Klause verließen. Bruder Otto fing küchentechnisch bei Null an. Er begnügt sich mit einer Mahlzeit am Tag. Nur am Sonntag schenkt er sich ein Glas Rotwein ein. Wenn er Geld übrig hat, schickt er es zwei Walderemiten, die in völliger Ödnis leben und keinerlei Einkünfte haben.
Die Arbeit im Altenheim hat für ihn einen höheren Sinn. Dort lässt er sich oft für den frühen Sonntag einteilen. Das sei dann seine Form von Gottesdienst, berichtet er. „Wenn ich am Sonntagmorgen bei diesen Menschen bin, dann tut es ihnen gut.“ Alles andere sei zweitrangig.

Er war schwer an Corona erkrankt
Bei dieser Arbeit ist es wahrscheinlich auch passiert: Im Frühjahr erkrankte der Einsiedler an Corona. Die Ansteckung nahm einen schweren Verlauf, er hatte bereits sein Testament gemacht. Über die Nachwirkung sagt er: „Ich bin nicht mehr der Alte.“
Wo er sich das Virus einfing, liegt für ihn auf der Hand: Bei der Arbeit im Altenheim. Zu keinem Zeitpunkt hat er seine Schützlinge gemieden. „Ich ging weiterhin zu ihnen, das ist mein Dienst.“ Wo sich andere beurlauben ließen und die Seelsorger die Heime nicht mehr betreten durften, wurde er zum gefragten Ansprechpartner. „Wir brauchen als Kirche die Menschen, die zu den Menschen gehen“, sagt er.
Da kann man Kritik heraushören. Nicht alle Kirchenmänner betraten in der harten Phase die Spitäler und Seniorenheime. Sie durften sie nicht betreten. Bruder Otto hat diese Einrichtungen nie gemieden. Der karitative Dienst war ihm wichtiger als die Rücksicht auf seine Gesundheit. Er ist sich sicher: „Jesus hätte es auch so gemacht.“
Die Wolfacher sind stolz auf ihn
Er meidet keinen Menschen. Wer sich diesen Einsiedler als weltfernen Träumer vorstellt, liegt bei Bruder Otto falsch. Der Mann ist lebenserfahren und gewandt. Er begrüßt die Besucher und verjagt sie nicht. St. Jakobus ist ein offener Ort. Auf den gepflegten Bänken findet ein Bus mit Schulkindern leicht Platz. Die Kapelle ist immer offen – wie fast alle Wegkapellen im Schwarzwald.
Die Wolfacher sind stolz auf ihren Waldbruder. Man kennt ihn, jeder weiß etwas über den bärtigen Mann in dem schwarzen, knöchellangen Habit zu erzählen. Seine Klause ist ein vielbesuchter Ort. Entweder sind es Pilger, denn der Jakobsweg von Loßburg zieht hier vorbei. Pilgerbuch und Stempel liegen für alle aus, die ihren weiten Weg dokumentieren wollen. Oder es kommen Wandergruppen vorbei und lagern um den Brunnen.
Ein seltener Satz: „Ich habe immer Zeit“
Bruder Otto hat diesen Kraftort neu belebt. Neugierige und Reisende klettern hoch und genießen die adrette Anlage. Sein Küchengarten ist eigenwillig, mancher pedantische Gärtner könnte hier die Nase rümpfen. Dem Klausner ist das gleichgültig, für ihn wächst hier das Paradies im Öko-Format, dessen Kräuter er nutzen kann. Dazu eigenes Wasser mit Brunnenkresse.
Zu den Besuchern gehören auch Menschen in tiefer Verzweiflung. Bruder Otto berichtet – ohne Namen zu nennen – von Menschen, die nachts bei ihm klingeln und ein Gespräch wünschen. Er öffnet dann die Türe, die er ohnehin nie abschließt. Er gewährt das Gespräch, es sei denn, der Klopfende ist betrunken. „Ich will, dass es anderen gut geht.“ Mehr will er nicht über seine Gespräche sagen außer dem raren Satz: „Ich habe immer Zeit.“
Sie hatten stets einen schillernden Ruf
Bruder Otto geht immer wieder auf Reisen. Ob er bis ans Ende seiner Tage als Einsiedler im Schwarzwald leben wird, lässt er offen. Auf diese Frage hin blinzelt er nur. Er ist ein religiöser Freigänger.
Eremiten wie er genossen stets einen schillernden Ruf. Zwar vom Volk verehrt, werden sie von den katholischen Autoritäten doch misstrauisch beäugt. Ihr unbürgerlicher Lebensstil verweigert sich dem Konsumzwang. „Wir gelten manchen bis heute als komische Gesellen“, weiß Bruder Otto und berichtet von langen Gesprächen mit dem Ordinariat in Freiburg, die doch wenig gebracht hätten. Das wechselseitige Unverständnis überwog.
Während ihn manche als Waldschrat oder Mesner betrachten, pflegt er ein völlig anderes Selbstverständnis: „Wir Eremiten sind diejenigen, die Gott suchen.“ Das sei der christliche Kern seiner Existenz zwischen Pflegebetten und Jakobspilgern. Dann lacht er über das ganze Gesicht und gibt eine Weisheit auf den Weg: „Nimm dich nicht so ernst“, sagt er und verschwindet im begnadeten Wildwuchs seines Gartens.