Es ist 14 Uhr. Glockenschläge hallen über den Friedhof in Görwihl (Landkreis Waldshut). Fritz Rüd blickt hoch zur Uhr. Etwas stimmt nicht. Die Uhr geht zwei Minuten nach.
Auf seinem Weg über den Friedhof zum Glockenturm wird Fritz Rüd sofort von Friedhofsbesuchern angesprochen. „Der Turm hält dich fit“, sagt das Ehepaar. „Auch noch mit 85 Jahren, das muss man erst mal schaffen.“
Denn jeden Tag, egal ob am Wochenende oder an Feiertagen, steigt der 85-Jährige die 98 engen Stufen des Görwihler Kirchturms hinauf, um die Kirchturmuhr wieder aufzuziehen – seit fast 54 Jahren.

Mehr als ein halbes Menschenleben mit dem Turm
Die hölzernen Stufen im Turm sind eng. Gebaut wurde dieser im Jahr 1554, eine Inschrift am Eingang weist auf die lange Geschichte hin. Auf dem Weg nach oben stützt sich Rüd am hölzernen Geländer ab. „Das ist alles alt“, sagt Rüd. Er weiß viel über den Glockenturm, schließlich hat er mit diesem mehr als ein halbes Menschenleben verbracht.
Stufe für Stufe erklimmt Fritz Rüd den Kirchturm, stets mit einem Lächeln im Gesicht. „Früher als ich jünger war, ging das alles schneller. Jetzt muss ich schon mehr schnaufen“, sagt er beinahe entschuldigend – trotzdem ist er in Windeseile die Treppen hinauf.
Die Nachbarn gucken immer auf die Uhr
An der Uhr angekommen, macht sich Fritz Rüd an die Arbeit. Die Uhr muss um zwei Minuten vorgestellt werden. Er lauscht. Die Uhr knackt. „Jedes Knacken ist eine Minute“, erklärt er. Geht die Uhr mal um eine Minute vor oder nach, sei das zu verkraften. Alles andere aber nicht. Wie gut die Uhr läuft, sei auch abhängig vom Wetter. Im Winter, wenn es kalt ist, läuft die Uhr immer zu schnell.
Nach den vielen Stufen wartet der nächste Kraftakt auf Rüd. Drei Gewichte müssen mit einer Kurbel hochgezogen werden. Das leichteste Gewicht wiegt fünf, die schwersten beiden rund 30 Kilogramm.

Zwischen 17 und 19 Uhr geht er normalerweise jeden Tag auf den Turm. Die Uhr muss nach spätestens 30 Stunden aufgezogen sein, sonst bleibt sie stehen. Das bemerken die Nachbarn immer sofort, sagt Rüd. Die Uhr bleibt wichtig für die Görwihler Gemeinde, trotz Armbanduhr und Handy.

Fritz Rüd kann sich nicht erinnern, dass er jemals seinen Job aufgrund von Krankheit nicht ausüben konnte. Nur selten blieb die Uhr in all den Jahren stehen. Dann auch nie länger als einen Tag, das ist Fritz Rüd wichtig. „Sonst rufen die Nachbarn sofort an“, sagt er.
Im Glockenturm ist die Zeit stehen geblieben
In der Kirche selbst wird derzeit renoviert. Oben im Glockenturm wirkt es aber, als sei die Zeit stehen geblieben. Das Uhrwerk stammt aus dem Jahr 1888.
Eine Firma aus dem Schwarzwald hält die Kirchturmuhr in Görwihl instand. „Die haben zu mir schon gesagt, ich verstehe mehr von der Uhr als sie“, sagt Rüd, „wir sollen das alte Ding doch ins Heimatmuseum stellen.“ Er inspiziert die Uhr gründlich: „Ja. Hier muss mal wieder alles gereinigt und geölt werden“, so sein Fazit.
Er sollte das Amt nur kurz übernehmen
Fritz Rüd ist eigentlich staatlich anerkannter Schwimmmeister, sagt er. Im Juli 1971 hat der damalige Görwihler Bürgermeister Harald Schäuble ihn gebeten, den Job mit der Kirchturmuhr zu übernehmen. „Ich habe damals nein gesagt“, erinnert sich Rüd. Man hat ihn aber überredet. Es hat geheißen, dass er sich nur für kurze Zeit um die Uhr kümmern muss, bis sie elektrisch wird.
Dass er fast 54 Jahre später immer noch jeden Tag auf den Turm steigen würde, hätte er damals nicht gedacht. Er hat stets die Hoffnung behalten, dass die Uhr doch elektrisch wird. „Aber es ist halt nie gemacht worden“, sagt Rüd.
Für das Uhrwerk ist die Gemeinde verantwortlich. 2016 hatte der Technische Ausschuss über die Elektrifizierung beraten, so Bürgermeister Mike Biehler. Die Kosten hätten da 17.350 Euro betragen.
Da es sich bei der Kirchturmuhr um ein sehr seltenes Exemplar handelt, hatte man sich für den Erhalt des bisherigen Zustandes entschieden, auch aufgrund des historischen Wertes und der hohen Kosten. Fritz Rüd wird im Rahmen eines Minijobs entlohnt, sagt Biehler.
Ein Nachfolger ist nicht zu finden
War Fritz Rüd mal verreist, kümmerten sich seine Kinder um die Uhr. Ein Nachfolger? Gibt es nicht. Rüd glaubt auch nicht, dass jemand für das Amt gefunden wird.
Laut Bürgermeister Mike Biehler wird die Gemeinde zunächst einen Ersatz suchen müssen und dann erneut über die Elektrifizierung beraten. Die Uhr könnte dann ins Heimatmuseum kommen, was aber auch mit hohen Kosten verbunden wäre.
Für Rüd geht es wieder Schritt für Schritt die Treppe nach unten. Lange kann er sein Amt nicht mehr ausüben, glaubt er. Unten angekommen seufzt er, lächelt aber trotzdem noch. „Jetzt hängt man halt doch dran, an der Uhr“, sagt er.
Und deshalb wird er sich in 24 Stunden erneut auf den Weg machen und die 98 Stufen hinaufsteigen, um die Uhr ein weiteres mal aufzuziehen. Damit die Zeit in Görwihl weiterläuft.