Sexualität authentisch und selbstbestimmt nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen leben zu können, wünschen sich im Erwachsenenalter viele – wann wird der Grundstein dazu gelegt?

Brigitte Hauß: Das ist ein schöner Wunsch! Der Grundstein wird ab der Geburt gelegt, aber Sexualität beginnt schon vor der Geburt. Beispielsweise haben Jungs im Mutterleib schon einen erigierten Penis und sie finden ihn auch manchmal. Bei Mädchen zeigt sich das nicht so deutlich. Kinder kommen als sexuelle Wesen auf die Welt. Das ist natürlich nicht die Sexualität, wie wir sie als Erwachsene kennen. Kinder entdecken sich von klein auf selber, reagieren auf Gesten, auf Berührungen. Je offener und natürlicher Kinder sich entfalten können, je wohler sie sich in ihrem Körper fühlen, desto besser ist es.

Fabian Steffen: Wichtig ist die Unterscheidung zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität. Bei Kindern geht es rein um selbstbezogene gute Körpergefühle, während sich erwachsene Sexualität meist auf einen anderen Menschen und sehr viel mehr auf die Geschlechtsorgane bezieht.

Brigitte Hauß
Brigitte Hauß | Bild: privat

Welche Rolle spielen dabei unbewusst Eltern und Bezugspersonen?

Brigitte Hauß: Ich gebe mal ein Beispiel. Kinder lieben es ja, nackt auf dem Wickeltisch zu strampeln. Da werden von den Eltern alle Körperteile benannt, nur meist werden die Geschlechtsorgane ausgespart. Da bekommen die Kinder bereits mit, das was anders ist.

Fabian Steffen
Fabian Steffen | Bild: privat

Wenn die Familie nackt voreinander rumläuft, ist das für die natürliche Entwicklung förderlich?

Fabian Steffen: Es kommt auf die Eltern und das Kind an. Wenn Eltern sich damit sehr unwohl fühlen, würden wir es nicht empfehlen. Eltern dürfen ihre eigenen Schamgrenzen nicht überschreiten. Was für die Kinder hingegen wichtig ist, dass sie die Unterschiede erkennen, dass meine Mama eine Frau ist und mein Papa ein Mann. Da bieten sich die Eltern natürlich als Lernmodell an. Viele Eltern tun sich leichter, sich vor kleinen Kindern nackt zu zeigen. Wenn die Kinder aber älter werden und ihre eigene Scham entdecken und sich selbst nicht mehr nackt zeigen wollen, sollte man das als Eltern ernst nehmen und respektieren.

Wenn Eltern die Schamgrenze der Kinder nicht ernst nehmen, kann das dazu führen, dass Kinder später selber schwieriger Grenzen setzen können?

Brigitte Hauß: Vielleicht in die Richtung, dass sich Kinder sagen, ich werde in meinem Gefühl nicht ernst genommen und vielleicht ist mein Gefühl nicht angebracht. Wenn das Kind mit elf Jahren beispielsweise duscht oder auf Toilette sitzt und nicht will, dass jemand reinkommt, die Eltern aber sagen, wir sind doch deine Eltern, stell dich nicht so an, bekommt das Kind so ein Gefühl, dass der Wunsch und das eigene Empfinden vielleicht nicht ok sind. Deshalb ist es ganz wichtig, die Schamgrenze der Kinder ernst zu nehmen. Beide Seiten dürfen Grenzen setzen, auch die Eltern, wenn ihnen etwas unangenehm ist. Wenn die Kinder merken, dass die Erwachsenen auch Grenzen haben dürfen, ist es ein Zeichen für die Kinder, dass sie auch Grenzen setzen dürfen.

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Was machen Eltern, wenn sie mit dem Kind über Aufklärung sprechen wollen und das Kind das nicht hören will?

Brigitte Hauß: Deshalb gehen wir auch ab der 4. Klasse in die Schulen und sprechen mit den Kindern. Wenn Aufklärung von fremden Leuten kommt, wird es anders angenommen.

Fabian Steffen: Es gibt ein Buch, das heißt „Sex ist wie Brokkoli, nur anders“ – ein Aufklärungsbuch für die ganze Familie von Carsten Müller. Es geht um Kommunikation über Sexualität und er beschreibt diese Situation ganz gut: Man spricht mit den Kindern auch über Gemüse und man macht das nicht nur einmal in einem großen Aufklärungsgespräch über Gemüse, sondern man spricht täglich oder wöchentlich darüber. Es kommt beiläufig zur Sprache. Das wäre ein optimaler offener Umgang mit dem Thema Sexualität.

Brigitte Hauß: Wenn man erzählt, wie Apfelsaft entsteht, hat kein Mensch ein Problem damit, ob das Kind das aufnehmen kann oder nicht. Bei Sexualität fragt man sich ständig, ist das nicht zu früh, ist das angemessen etc. Aber das haben wir Erwachsenen im Kopf, weil es ein Thema ist, was schambehaftet ist und wir nicht locker damit umgehen.

Sie machen den Kindern und Jugendlichen auch deutlich, dass es einen Unterschied zwischen sich schämen und dem Schamgefühl gibt.

Brigitte Hauß: Ja! Sich für etwas schämen, ist ein blödes Gefühl, aber ein Schamgefühl zu haben, schützt uns. Wenn wir kein Schamgefühl hätten, würden wir beispielsweise draußen nackig rumlaufen und uns angreifbar machen. Ein Schamgefühl zu haben, ist wichtig, das entwickelt sich und geht niemanden was an. Das ist mein intimer Bereich.

Sexuelle Bildung

Oft wird behauptet, dass Pornos heutzutage der Aufklärungsunterricht der Jugendlichen seien. Können Sie das aus Ihrer Erfahrung an den Schulen bestätigen?

Fabian Steffen: Bei den Jungs ist das ab Klasse 7 fast immer in den Schulklassen ein Thema. Zwischen 20 und 30 Prozent der 13-Jährigen haben schon mal einen Porno gesehen oder einen Ausschnitt daraus. Die Filme kursieren über die Smartphones oder werden am PC zu Hause angeschaut. Mit 18, 19 haben dann fast alle einen Porno gesehen. Aufklärungsunterricht für Jugendliche ist das nicht. Das Problem sehe ich eher darin, dass Pornos einen Standard setzen und der Standard nicht unbedingt realitätsabbildend ist. Jungs setzen sich dann unter Leistungsdruck.

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Brigitte Hauß: Bei Mädchen sind Pornos weniger ein Thema. Auf jeden Fall reden sie nicht viel drüber.

Fabian Steffen: Eine unserer Hauptbotschaften an die Jugendlichen ist, dass das, was in den Pornos passiert, vorher festgelegt wurde und dass der Sex in der Partnerschaft jedes mal ein Abenteuer ist, sich auf den anderen einzulassen. Wobei man nicht unbedingt weiß, wo man am Ende landet. Weil es von zwei Seiten Wünsche gibt, die miteinander agieren.

Hören die Jugendlichen zu?

Brigitte Hauß: Ich habe den Eindruck, dass sie zwei, drei Stunden mit großen Augen und Ohren dasitzen, dankbar sind und alles aufsaugen. Beim Thema Pornografie ist es auch wichtig, zu vermitteln, dass Gefühle fehlen, das Zwischenmenschliche und Emotionale. Hier vermitteln wir auch deutlich, dass die Jugendlichen ihre Grenzen ernst nehmen sollen. Und sie haben das Recht, zu jedem Zeitpunkt von Sexualität nein zu sagen. Was in der realen Situation oft gar nicht so einfach ist. Weil man jemanden nicht verletzen oder verlieren will.

Was ist den Jugendlichen in einer Liebesbeziehung wichtig?

Brigitte Hauß: Treue, Vertrauen, Ehrlichkeit – das sagen Jungs wie Mädchen in allen Klassen.