Das Jahr 2021 neigt sich dem Ende zu. Wie würden Sie es charakterisieren?
Aufregend in jeglicher Hinsicht. Wenn wir uns vor Augen halten, welches Großereignis diese Stadt mit der Landesgartenschau erleben durfte, und unter welch‘ schwierigen Bedingungen! Ich bin dankbar für das Engagement der Überlinger und den Erfolg, den wir mit der Landesgartenschau erzielt haben. Knapp 700¦000 Besucher sprechen für sich.
Was war für Sie der emotional stärkere Moment: Die Eröffnung der LGS, weil es mit Verzögerung dann endlich los ging? Oder das Ende, an dem Sie eine gute Bilanz ziehen konnten?
Das Ende. Zum einen, weil eine Last von unseren Schultern gefallen ist. Zum anderen, weil die emotionale Bindung immer größer wurde und wir uns an das sommerlange Gartenfest gewöhnt haben. Ich musste schon schlucken, als es vorbei war und ein wunderschöner Sommer zu Ende ging.

Ihre Amtszeit lässt sich in die Zeit vor und in die Zeit nach der Landesgartenschau (LGS) einteilen. Doch gefühlt kann von einer Halbzeitpause nicht wirklich die Rede sein. Wie empfinden Sie das aktuelle Tempo, in dem die Stadtentwicklung sich befindet?
Die Stadtentwicklung erfordert seit Beginn meiner Amtszeit ein hohes Tempo. Viele Themen wurden in Hinblick auf die Landesgartenschau bearbeitet. Aber es geht ja gerade so weiter, wie man auch mit Blick auf unseren Doppelhaushalt sieht. Manchmal hätte ich zwar den Wunsch, dass der Rucksack, den wir uns aufladen, leichter ist. Aber das lassen die zahlreichen gegebenen und wichtigen Projekte nicht zu.
Welche Themen rauben Ihnen derzeit die meisten Nerven?
Unser Megathema lautet Schulcampusplanung. Wir bewegen uns nun in Richtung der Neubauplanung unseres Gymnasiums. Ein weiterer Punkt, der mich in letzter Zeit sehr beschäftigt, ist der zähe Fortschritt beim Bau unseres neuen Pflegezentrums, das jetzt dringend in Bau kommen muss, bei dem wir jedoch die ganzen Widrigkeiten des aktuellen Baumarktes zu spüren bekommen. Das sind momentan die großen Bauprojekte, die uns fordern und viel Kraft abverlangen.
Wann sagen Sie nach Feierabend: „schee war‘s“?
Nach zahlreichen Veranstaltungen auf der LGS, die ich besuchen durfte. Und es gibt auch Gemeinderatssitzungen, bei denen wir gut vorankommen und ich dann sagen kann: „Das war schee.“
In einer Klausurtagung hat sich der Gemeinderat jetzt mit Visionen für die Zukunft des Kramer-Areals befasst? Gibt es neue Ideen bzw. Strategien, einen Einfluss auf die künftige Nutzung zu nehmen? Wie sehen die zeitlichen Vorstellungen der Eigentümer aus?
Ja, momentan wird um das gerungen, was auf dem Areal entstehen kann. Aus der Bürgerschaft und dem Gemeinderat gibt es viele schöne Ideen. Momentan besteht die Schwierigkeit darin, die Vorstellungen des Eigentümers mit dem Planungsrecht der Stadt in Einklang zu bringen. Es gibt einige offene Fragen, mit denen sich der Gemeinderat aktuell beschäftigt, und die ich nun nach Abstimmung mit unserem Hauptorgan an die Eigentümergesellschaft adressiert habe.
Welche Punkte sind bereits geklärt in Sachen Kramer-Areal?
Der klar formulierte Wunsch, dass hier eine Wohnbebauung entstehen soll, mit den Vorgaben unseres Wohnbaulandmodells, das einen preisgedämpften Wohnraum vorsieht. Klar ist auch, wenn ein neues Stadtquartier mit circa fünf Hektar entsteht, dass dort eine Kinderbetreuungseinrichtung geschaffen werden muss.
Und was muss noch geklärt werden?
Unklar ist derzeit noch, wie viele öffentliche Flächen im Quartier entstehen sollen und wer diese letztlich unterhält und bezahlt. Stichwort: Infrastrukturfolgekosten, deren mögliche Höhe zu begutachten ist. Wenn die Rahmenbedingungen stehen, soll ein städtebauliches Wettbewerbsverfahren durchgeführt werden, als Mehrfachbeauftragung mit diskursiver Werkstattphase. Das ist ein wichtiger Punkt zur Sicherstellung einer umfassenden Beteiligung der Bürgerschaft.
Wie steht es eigentlich um die Gründung einer städtischen oder spitälischen Wohnbaugesellschaft? Immerhin war das eine Ihrer zentralen Forderungen im OB-Wahlkampf. Fünf Jahre Ihrer Amtszeit sind nun vorbei, aber es ist ruhig geworden um dieses Thema.
Ruhig würde ich nicht sagen. Das Thema steht ganz oben auf der Agenda für 2022. Die Konstellation ist komplexer als erwartet. Wir kreisen momentan um die Frage, wie die Organisationsform aussehen kann. Ob dies in einem Eigenbetrieb, einer eigenen Abteilung oder in einer selbstständigen juristischen Person sinnvoll ist, muss in einer Gesamtkonzeption abgewogen werden. Ein wesentlicher Faktor ist, ungeachtet der Organisationsform, angemessen Personal vorzuhalten, damit der Start gut gelingen kann. In Anbetracht der erforderlichen Personalkapazität stellt dies eine schwierige Aufgabe dar, denn das Thema Wohnen umfasst eine Vielzahl an Themen: Grundstücke, Bauen, Finanzierung.
Was soll die Gesellschaft konkret bewirken?
Das Hauptanliegen ist es, ein angemessenes und preisgedämpftes Wohnangebot machen zu können. Sie kennen den Überlinger Wohnungsmarkt, es gibt eine dringende Notwendigkeit. Die Stadt Überlingen hat kein Interesse daran, Eigentumswohnungen zu schaffen. Wenn, dann geht es darum, bezahlbare Mietwohnungen anzubieten.
Ihre Partei, die SPD, kündigte bundesweit den Bau von 500 000 Wohnungen für die nächste Legislaturperiode an, davon 100 000 Sozialwohnungen. Was davon wird in der unter einem SPD-Oberbürgermeister stehenden Stadt Überlingen ankommen?
Das hängt von den Fördermöglichkeiten ab, die wir gerade eruieren und mit denen von Bund und Land Anreize gesetzt werden. Es ist mein Wunsch, mit korrespondierenden städtischen Mitteln in größerem Maße tätig zu werden. Das hängt aber nicht von meiner Parteimitgliedschaft ab, sondern von dem, was wir uns als Stadt leisten können. Ich sehe die Wohnungsnot täglich, wenn Menschen sich an uns wenden, denen es nicht gelingt, adäquate Wohnungen zu finden. Als Stadt sind wir eingebunden in ein Korsett aus kommunalen Finanzen und einer Rechtsaufsicht, die den Haushalt genehmigen muss. Wenn es nach mir ginge, würden wir so viel und so schnell wie möglich bauen.
Wie definieren Sie den Begriff „bezahlbarer Wohnraum“?
Alles, was sich unterhalb der Durchschnittsmiete bewegt, also unterhalb der ortsüblichen Miete, die im Mietspiegel erhoben wird, und dazu führt, dass das individuelle Haushaltsnettoeinkommen nicht über Gebühr mit Wohnkosten belastet wird. Der Mietpreis hängt davon ab, was in welchem Standard gebaut wird und ob auf eigene Grundstücke zurückgegriffen werden kann. Es macht mir Sorgen, wenn ich mir die Entwicklung der Baupreise anschaue, und ich frage mich schon, ob letztlich so günstig gebaut werden kann, wie es dafür erforderlich ist.
Als Bauprojekt für Familien wurde der Rauensteinpark ins Auge gefasst. Das Projekt schien schon weit fortgeschritten. Doch der Bürgerprotest wächst nun kontinuierlich. Hat die Stadt es verpennt, die Relevanz früher deutlich zu machen, oder warum kommt der Bürgerprotest erst jetzt?
Die Stadt hat hier nichts „verpennt“, im Gegenteil. Wir haben den Auftrag des Gemeinderates angenommen, der 2015 entstanden ist, wonach nach dem Erwerb von Rauenstein Teile des Parks zur Bebauung genutzt werden sollen, um für den hohen Kaufpreis eine Gegenfinanzierung zu erhalten. Auch vor dem Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan war das Thema schon früh präsent. In Terminen der Bürgersprechstunde konnte vieles erklärt werden. Mittlerweile wird der Sachverhalt in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen, was nun in der Übergabe von Unterschriften für einen Einwohnerantrag mündete. Mit dem Einwohnerantrag werden die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, ein Thema wieder auf die Tagesordnung des Gemeinderates zu setzen und dort Rederecht zu erhalten. Das ist ein schönes Instrument, damit der Gemeinderat eins zu eins die Meinungen der organisierten Bürgerinitiative hört. Die Übergabe der Unterschriften war ein angenehmer Termin, Argumente wurden ausgetauscht. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir uns aktuell im Bebauungsplanverfahren befinden, mit dem Ziel, dort dringend erforderlichen Wohnraum zu schaffen.
Der Verein Bürgersinn löst sich auf. Wie finden Sie das?
Ich hatte mit dem Bürgersinn eine schöne Begegnung, gleich zu Beginn meiner Amtszeit, und habe damals die Anregung gegeben, doch für den Gemeinderat zu kandidieren, um letzten Endes am Ratstisch mitzuentscheiden. Wie mir der Vorsitzende damals sagte, wollten sie genau das nicht, man wolle sich in der öffentlichen Debatte einbringen, aber keine Verantwortung übernehmen. Der Verein hat unter Vorsitz von Joachim Betten eine hohe Energie an den Tag gelegt und viele städtische Themen begleitet. Nun bin ich betrübt, dass es nach dem Tod von Herrn Betten nicht weitergehen soll. Aus meiner Sicht ist das ein Phänomen der Zeit. Es gibt viele Formen, sich in Überlingen bürgerschaftlich zu engagieren, bei einigen losen Initiativen, wodurch auch die Konkurrenz unter den Gruppen größer geworden ist. Wenn dann die Verankerung, wie beim Bürgersinn als eingetragener Verein, fehlt, dem fällt es schwerer, organisiert und langfristig einzusteigen. Das ist eine bedauerliche Entwicklung, aber auch dem Zeitgeist geschuldet.
Die Stimmung in den Gemeinderatssitzungen klingt von mal zu mal gereizter, quer über alle Parteien hinweg wird gegiftet und polemisiert. Woran liegt das?
Für die gemeinderätliche Arbeit gibt es in Überlingen einen hohen Gradmesser. Wir haben fachlich unterschiedliche Auffassungen und diskutieren hart in der Sache. Aber es gelingt uns weitestgehend immer wieder, nach der Sitzung zueinander zu finden. Was mir nicht gefällt, ist, wenn sich Räte gegenseitig persönlich angehen. Da versuche ich, so gut wie möglich einzugreifen und zu schlichten.
Noch eine Frage für die Chronisten, die sich in 100 Jahren wundern würden, wenn wir uns nicht explizit über Corona unterhalten hätten. Wie schätzen Sie die Lage aktuell ein?
Ernst. Aber, und das ist ein Lichtblick, den ich benennen möchte: Wir haben Instrumente, um dieser ernsten Lage zu begegnen. Als Stadt haben wir gemeinsam mit dem Helios-Spital daran gearbeitet, so viele Impfmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, wie möglich. Neben den mobilen Impfteams und den Hausärzten. Ich bin der Geschäftsführung des Helios-Spitals dafür dankbar, es bedurfte nur eines Anrufs und wir haben festgelegt, dass wir eine gemeinsame Aktion durchführen, die auch gut läuft. Die Ärzte und das DRK, das THW und die Stadtverwaltung, auch mit unserer Feuerwehr, legen hier ein unglaubliches Engagement an den Tag. Deshalb bin ich mittlerweile etwas entspannter, als ich es vor vier Wochen noch war, wobei die Virusvariante Omikron die Anspannung leider wieder ansteigen lässt. Mit Vernunft und dem Erkennen, dass Impfungen und das Einhalten der Abstandsregeln notwendig sind, werden wir als Stadt so gut wie eben möglich durch die Pandemie kommen und uns im Frühjahr hoffentlich gelöster begegnen können.
Was macht das Virus mit unserer Stadtgesellschaft?
Ich bekomme es auch im persönlichen Gespräch mit, dass es Spaltungen gibt. Nicht nur, dass Freundschaften zerbrechen. Das geht bis in Familien hinein, von Beziehungsproblemen bis zu Ehescheidungen. Das kann einen als Oberbürgermeister nicht unberührt lassen und es muss uns gelingen, zu einem objektiven und gemeinsamen Umgang mit der Pandemie zu finden. Es ist aber schwierig, jemanden zu erreichen, der die Ebene der sachlichen Diskussion verlässt. Das macht uns alle ein bisschen ratlos, wie wir die noch erreichen können, die die Pandemie leugnen. Da hilft nur Aufklärung, die in Baden-Württemberg gut betrieben wird.

Was wurde eigentlich aus den Bußgeldverfahren gegen die Honoratioren, die bei der Eröffnung der Landesgartenschau die damals vorgeschriebenen Coronaabstände nicht eingehalten haben?
Es gab ein Verfahren gegen diejenigen, die Verantwortung getragen haben. Der Sachverhalt ist abgeschlossen.
Und, welches Ende nahm das Verfahren?
Ich nehme zu einzelnen Ordnungswidrigkeitenverfahren öffentlich grundsätzlich keine Stellung.
Ich würde aber sagen, dass das von hohem öffentlichem Interesse ist.
Das ist Ihre Einschätzung.
In welcher Höhe?
Ich nehme zu einzelnen Ordnungswidrigkeitenverfahren öffentlich grundsätzlich keine Stellung.
Bußgeldverfahren kann man nur gegen Personen und nicht gegen Gesellschaften führen.
Gegen diejenigen, die Verantwortung getragen haben.
Also gegen Sie?
Gegen diejenigen, die Verantwortung getragen haben. Das muss ja nicht nur und immer der Oberbürgermeister sein.
Sie sagen, „nicht nur“. Wenn gegen Sie ein Bußgeld erhoben wurde, müssten Sie ja ungefähr noch wissen, was Sie bezahlt haben.
Es wurde gegen diejenigen verhängt, die Verantwortung getragen haben.
Da kommen nun nicht so viele Personen infrage. Die Bußgeldhöhen, die gegen die Skifahrer erhoben wurden, waren öffentlich bekannt.
In diesem Fall hat jemand in eigener Entscheidung sein Ordnungswidrigkeitenverfahren öffentlich gemacht. Das kann ich an dieser Stelle nicht. Ordnungswidrigkeitenverfahren sind nicht öffentlich.
Die Eröffnung der Landesgartenschau war aber ein Prozess, der in der Öffentlichkeit stattfand.
Ja, die Eröffnung. Ordnungswidrigkeitenverfahren werden als rechtsstaatliches Verfahren nicht öffentlich bearbeitet. Und am Ende kommt ein Ergebnis raus. Die einen oder anderen gehen mit dem Ergebnis zur Presse. Und die anderen sagen, ich mache das mit der Behörde aus, die das Ordnungswidrigkeitenverfahren angestoßen hat. Bei Bedarf zusätzlich noch mit der Widerspruchsbehörde, beziehungsweise dem zuständigen Gericht. Das ist ein ganz normaler Vorgang, und ich glaube, so spannend ist er auch nicht.
Kommen wir noch zu einem guten Ende. Sie haben drei Wünsche frei fürs neue Jahr. Was wünschen Sie sich.
Erstens: Einen genehmigungsfähigen Doppelhaushalt, der unserer Stadt so viele Freiheiten gibt, dass wir das umsetzen können, was wir brauchen. Wir sind ja bescheiden. Zweitens: Ein Ende der Pandemie. Das wünsche ich mir am allermeisten für unsere Kinder und Jugendlichen, die gut vorbereitet in ihr Studium oder ins Berufsleben starten wollen und dafür gute Grundlagen brauchen.
Und drittens?
Gesundheit, die wir alle benötigen, um die Herausforderungen zu meistern, vor denen wir stehen. Dass wir immer wieder Ruhezeiten finden, und dass wir sorgsam miteinander umgehen. Dass wir unsere Stadt genießen und uns auf das Neue Jahr freuen können, wenn wir uns bei einem großen Bürgerfest im Uferpark wieder unbeschwerter begegnen können.