„Als ich am 24. Februar 2022 vor dem Fernseher saß und die Nachrichten über Russlands Angriff auf die Ukraine gesehen habe, habe ich beschlossen, dass ich nicht nur fassungslos dasitzen werde“, sagt Manuel Wagner, Leiter der Musikschule Bad Säckingen (MuSäk) im Rückblick auf den Beginn des Ukraine-Krieges vor drei Jahren. Im Gespräch mit unserer Zeitung erzählt Wagner, wie er diesen Gedanken in die Tat umgesetzt hat und kurzerhand für Olesia und Viktor Kravchenko, die Eltern des ukrainischen Dirigenten der Stadt- und Feuerwehrmusik Laufenburg, Illia Kravchenko, zum Fluchthelfer wurde.

Illia Kravchenko (hinterste Reihe, Zweiter von links) hat beim Rundfunk-Sinfonieorchester Kyjiw mitgewirkt.
Illia Kravchenko (hinterste Reihe, Zweiter von links) hat beim Rundfunk-Sinfonieorchester Kyjiw mitgewirkt. | Bild: Illia Kravchenko

Illia Kravchenko hatte die Ukraine für sein Musikstudium bereits 2015 verlassen. Im Rahmen dieses Studiums, das er in Basel absolviert hat, hat Kravchenko ein Praktikum an der Musikschule MuSäk bestritten, woraus eine Festanstellung resultierte. Dort hat er Manuel Wagner kennengelernt, zu dem er neben der Arbeit eine freundschaftliche Verbindung pflegt. Als vor drei Jahren die Ukraine angegriffen wird, entsteht in der Familie Wagner der Wunsch, zu helfen. „Meine Kinder haben viel zu der Lage in der Ukraine nachgefragt“, erklärt Wagner. Dabei denkt die Familie an Illia Kravchenko, der vom Krieg in seinem Heimatland persönlich betroffen ist.

Die Stadt Schytomyr bereitet sich auf die russischen Angriffe vor.
Die Stadt Schytomyr bereitet sich auf die russischen Angriffe vor. | Bild: Illia Kravchenko

Schon in den ersten Kriegstagen fallen Bomben auf seine Heimatstadt

„Bei einem Familiengespräch ist die Idee entstanden, Illia zu uns zum Essen einzuladen und über die Situation zu sprechen“, sagt Wagner. Bei diesem Essen erläutert Illia Kravchenko, dass seine Mutter Olesia und sein Stiefvater Viktor Kravchenko die westukrainische Großstadt Schytomyr verlassen möchten. Schytomyr war aufgrund des nahegelegenen Militärflughafens eines der ersten Ziele der russischen Angreifer.

Freiwillige Helfer befüllen Sandsäcke, um Straßenblockaden für Panzer zu errichten.
Freiwillige Helfer befüllen Sandsäcke, um Straßenblockaden für Panzer zu errichten. | Bild: Illia Kravchenko

Die Stadt wurde gleich in den ersten Kriegstagen mit Raketen beschossen. Dabei wurden nicht nur militärische Ziele getroffen, wie Olesia Kravchenko aus eigener Erfahrung berichtet. „Auch das Krankenhaus und die Schule im Zentrum der Stadt sind bombardiert worden“, sagt sie.

Auf dem Weg nach Warschau: Illia Kravchenko, Andrius Pamorskis und Manuel Wagner (von links) hoffen darauf, dass alles gut geht.
Auf dem Weg nach Warschau: Illia Kravchenko, Andrius Pamorskis und Manuel Wagner (von links) hoffen darauf, dass alles gut geht. | Bild: Manuel Wagner

Viktor Kravchenko ist nur einige Tage vor Ausbruch des Krieges am Herzen operiert worden. „Nach dem Angriff auf Schytomyr sind Chaos und Panik ausgebrochen. Als die Gesundheitszentren der Stadt geschlossen worden sind, war mir klar, dass mein Mann und ich die Ukraine verlassen müssen“, erläutert Olesia Kravchenko ihre Fluchtentscheidung. Denn Viktor Kravchenko war nach seiner OP weiterhin auf medizinische Hilfe und regelmäßige ärztliche Kontrollen angewiesen.

Fluchtroute führt über Warschau

Gemeinsam mit ihrem Sohn Illia planen Olesia und Viktor Kravchenko daraufhin ihre Flucht nach Laufenburg, wo sie zunächst bei Illia unterkommen wollten. „Ich stand im ständigen Kontakt zu meinen Eltern. Aber es war wie Lottospielen: Jedes Gespräch mit meiner Mutter hätte das letzte sein können“, schildert Illia Kravchenko die ersten Kriegstage aus seiner Perspektive. Mit einem von der OP noch geschwächten Mann, dem Kater Marcel in einer Reisetasche und einem Rucksack mit den wichtigsten Habseligkeiten bepackt gelang es Olesia Kravchenko, einen Bus von Schytomyr nach Warschau zu ergattern. Dort konnte Illia vorerst ein Hotel für seine Eltern buchen. „Das war ein Riesenglück. Damals waren fast alle Hotels in Warschau ausgebucht“, erläutert er.

Geschafft! Nach erfolgreicher Ankunft in Warschau stoßen Manuel Wagner, Illia Kravchenko und Andrius Pamorskis (von links) mit einem ...
Geschafft! Nach erfolgreicher Ankunft in Warschau stoßen Manuel Wagner, Illia Kravchenko und Andrius Pamorskis (von links) mit einem Bier an. | Bild: Manuel Wagner

Manuel Wagner macht sich auf den Weg nach Polen

Doch wie sollte es von Warschau aus weiter nach Deutschland gehen? Selbst mit dem Auto abholen konnte Illia Kravchenko seine Eltern nicht. Er hatte zu diesem Zeitpunkt keinen gültigen Führerschein. Dies teilte er Manuel Wagner beim gemeinsamen Abendessen mit. Und da ist für Wagner klar: Hier kann er unterstützen. Gemeinsam mit Andrius Pamorskis, einem ehemaligen Studienkollegen von Illia Kravchenko, der als Zweitfahrer fungieren sollte, und Illia selbst bereitete sich Manuel Wagner anschließend auf eine Autofahrt nach Warschau vor. Dafür stellte Wagner das Familienauto zur Verfügung.

Er nahm Kontakt zu Bad Säckingens Bürgermeister Alexander Guhl auf und bat um eine dreitägige Freistellung für sich und Illia Kravchenko, die er umgehend erhielt. Um die Reisekosten zu decken, startete Musikschullehrerin Steffi Klomki bei der MuSäk einen Spendenaufruf, der ein voller Erfolg wurde. Auch der Helferkreis Dogern um Anette Sperling, zu der Manuel Wagner privaten Kontakt hat, setzte sich ein und sammelte Kleider für eine Erstausstattung der Kravchenkos nach ihrer Ankunft in Laufenburg.

Am 7. März 2022 um 4 Uhr morgens ging die Fahrt nach Warschau dann los. Mitgenommen hatten die drei Fluchthelfer ihre Papiere, Proviant und eine Menge Energydrinks, um wachzubleiben. „Für mich war es eine Fahrt ins Ungewisse“, sagt Illia Kravchenko. Er machte sich Sorgen, ob alles gut gehen und der Treffpunkt klappen würde. Die Stimmung im Auto beschreiben Kravchenko und Wagner daher als konzentriert.

3000 Kilometer in 34 Stunden

Nach 16 Stunden Fahrt, die nur zum Tanken des Autos unterbrochen worden ist, und problemlosem Passieren der deutsch-polnischen Grenze dann die Erlösung: Die Fluchthelfer aus Laufenburg kommen am Bahnhof in Warschau an, wo sich das Hotel befindet, in dem Olesia und Viktor Kravchenko sich nach ihrer 15-stündigen Busfahrt aus der Ukraine heraus für kurze Zeit erholt haben.

Viktor Kravchenko in Warschau beim Geldabheben. Im Hintergrund ist der große Andrang zu sehen.
Viktor Kravchenko in Warschau beim Geldabheben. Im Hintergrund ist der große Andrang zu sehen. | Bild: Illia Kravchenko

„Auf diesen Erfolg haben wir mit einem Bier angestoßen“, erzählen Wagner und Kravchenko. Die Nacht verbrachten alle in Warschau, um neue Kraftreserven für die Heimfahrt zu tanken. Am nächsten Morgen ging es dann wieder zurück nach Deutschland. „Es herrschten gemischte Gefühle. Einerseits war die enorme Dankbarkeit mir und Andrius gegenüber bemerkbar und andererseits war der Verlust spürbar, da Olesia und Viktor gerade alles hinter sich gelassen hatten“, beschreibt Manuel Wagner die Atmosphäre auf der Rückfahrt. „Ich war natürlich sehr froh, meine Eltern in Sicherheit zu wissen“, ergänzt Illia Kravchenko.

Die Tachoanzeige beweist: Rund 3.000 Kilometer sind es von Laufenburg nach Warschau und zurück.
Die Tachoanzeige beweist: Rund 3.000 Kilometer sind es von Laufenburg nach Warschau und zurück. | Bild: Manuel Wagner

Nach insgesamt 34 Stunden Fahrt und rund 3000 zurückgelegten Kilometern in nur zwei Tagen fahren Manuel Wagner und Andrius Pamorskis schließlich mit den Kravchenkos in Laufenburg vor. „Mission completed“, textet Manuel Wagner daraufhin seiner Familie, die zu Hause gespannt auf die Rückkehrer gewartet hat.

Kater Marcel hat die lange Fahrt von der Ukraine nach Deutschland ebenfalls tapfer überstanden.
Kater Marcel hat die lange Fahrt von der Ukraine nach Deutschland ebenfalls tapfer überstanden. | Bild: Manuel Wagner

Neues Leben in Deutschland

In Deutschland beginnt für Olesia und Viktor Kravchenko ein neues Leben. Sie müssen die deutsche Sprache lernen und Olesia muss eine neue Arbeit finden. Viktor befindet sich wegen seiner OP weiterhin in medizinischer Behandlung. Drei Jahre später ist Olesia das gelungen: Sie hat eine Stelle in einem Seniorenheim in Bad Säckingen, bei der es ihr besonders viel Freude macht, mit den Senioren zu singen und sie auf dem Klavier zu begleiten. Denn wie für Illia Kravchenko ist auch für seine Mutter die Musik ein bedeutender Teil des Lebens.

Olesia Kravchenko (links) bei ihrer Leidenschaft, dem Singen, hier beim Oreya-Chor in Schytomyr.
Olesia Kravchenko (links) bei ihrer Leidenschaft, dem Singen, hier beim Oreya-Chor in Schytomyr. | Bild: Illia Kravchenko

In der Ukraine hat Olesia Kravchenko als professionelle Chorleiterin gearbeitet. Das kann sie hier aufgrund der Sprachbarriere bislang nicht machen – was sie aber nicht davon abhält, in einem Chor zu singen. Seit September 2022 ist sie Mitglied im Kirchenchor St. Martin Luttingen und steht dort passenderweise neben Marlies Wagner, der Mutter von Manuel Wagner. „Das Singen deutscher Lieder hat mir auch dabei geholfen, besser Deutsch zu lernen“, sagt Olesia.

Olesia und Viktor Kravchenko fühlen sich wohl in Deutschland. Hier besuchen sie die Todtnauer Hängebrücke.
Olesia und Viktor Kravchenko fühlen sich wohl in Deutschland. Hier besuchen sie die Todtnauer Hängebrücke. | Bild: Illia Kravchenko

Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine sind sich die Kravchenkos einig: „In einem Krieg gibt es keine Gewinner. Daher hoffen wir, dass der Krieg bald endet“. Auch um der Verwandten willen wie dem Opa von Illia Kravchenko, der seine Heimat nicht verlassen wollte. Manuel Wagner findet abschließend mahnende Worte hinsichtlich der Bundestagswahl: „Man darf in Deutschland nicht kriegsmüde werden und dementsprechend seine Stimme setzen. Es geht schließlich um Millionen Schicksale in der Ukraine“.