Marie sitzt in ihrem Bett und schaut auf ihr Handy. Auf dem Display wischen bunte Videos mit schriller Musik vorbei. Ihr ist langweilig, sie hat heute nichts vor – mal wieder nicht. Es ist nicht so, als hätte Marie keine Freunde, die hat sie sehr wohl. Aber wo sollen sie sich denn treffen? Draußen regnet es in Strömen, die Wohnung ist zu klein und die Musik, die sie anmachen wollen, zu laut.
„Marie“ gibt es so nicht, ihre Erfahrung aber teilen unzählige Jugendliche, vor allem auf dem Land. Ihnen fehlen Orte, wo sie sich treffen, austauschen und zurückziehen können. Der Jugendraum in Jestetten versucht, das zu ändern.
Musik hallt aus der ehemaligen Güterhalle
Wer das alte Bahnhofsgebäude in Jestetten betritt, könnte meinen, er sei gerade in ein gemütliches Wohnzimmer gestolpert. Ein paar Jugendliche haben es sich auf den Sofas in der Sitzecke bequem gemacht, daneben stehen hinter der Bar bunte Limoflaschen in einem Kühlschrank. Im nächsten Raum klacken Billardkugeln aneinander und in der ehemaligen Güterhalle hallt die Musik aus einer großen Box durch die offene Tür.
Draußen hat sich eine Gruppe von Jugendlichen versammelt, die sich wenig später nach drinnen bewegt und wieder auflöst. Die Tür des Haupteingangs schwingt mehrmals auf und zu. Während ich mich mit den Jugendlichen unterhalte, schauen immer wieder ihre Freunde um die Ecke und fangen an zu kichern. Ein bisschen erinnert es an eine Szene von einem Pausenhof, mit viel Dynamik und noch mehr Geräuschen.
An drei Nachmittagen und Abenden in der Woche ist der Jugendraum geöffnet, für viele der Jugendlichen ist er zu einer Art zweitem Wohnzimmer geworden. „Ich komme Mittwoch bis Freitag, eigentlich immer wenn er offen hat“, erzählt Dennis. „Wenn ich rausgehe, dann hierher“, meint Dario und schiebt hinterher: „Ohne den Jugendraum wär‘s hier echt langweilig.“
Vorher waren die Jugendlichen irgendwo im Dorf
Bevor sie von dem Raum erfahren haben, sind viele von ihnen auf andere Alternativen ausgewichen. Dass sie sich oft draußen – irgendwo im Dorf – getroffen haben, erzählen fast alle Jugendlichen. Aber auch in die Welt hinter dem Bildschirm flüchten sich einige, vor allem seit Corona. „Die Pandemie hat einiges aufgerüttelt und verschärft“, meint Michael Mothes, der für den Jugendraum zuständig ist. „Es gibt jetzt mehr Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, ohne rauszugehen und das nutzen viele“, erklärt der Jugendsozialarbeiter.
Trotz virtueller Wunschwelt sehnen sich viele junge Menschen nach einem Ort der Gemeinschaft, der weder Schule noch Zuhause ist. Sie sind dankbar für den Jugendraum, hier kann man sich ungestört mit Freunden treffen und die Diskussion mit den Eltern oder die verhauene Klassenarbeit für ein paar Stunden vergessen. „Es ist ein Rückzugsort. Das ist doch der Traum von jedem Jugendlichen, einen elternfreien Raum zu haben“, meint Lina.
„Man hat hier viel mehr Freiraum und es gibt mehr Aktivitäten als Zuhause.“ Auch Dennis sagt: „Wenn man nichts zu tun hat, dann kommt man hierher und es ist immer etwas los. Hier gibt es Fifa und Billard und die Nähe zum Bahnhof ist praktisch, weil von überall ein Bus hier hinfährt.“
Jetzt kommen auch jüngere Besucher
Seit dem Umzug in das Bahnhofsgebäude bemerkt Mothes außerdem mehr jüngere Besucher. Das leuchtet ein, denn wenn man sich mit einer großen Gruppe von Freunden treffen will, wird es zu Hause schnell eng, im Jugendraum gibt es dieses Problem nicht: „Ich finde es schön mit mehreren Freunden zu chillen, ohne dass die Eltern hereinkommen“, erklärt Lien, sogar neue Freunde habe sie durch den Jugendraum dazugewonnen. Auch Ceyda sieht den Jugendraum als Ort der Begegnung: „Ich komme her, weil hier Leute sind, zu denen man sonst keinen Kontakt hat und hier in den Austausch kommen kann.“ Heute hat sie zum Beispiel ihre Freundin Alexandra zum ersten Mal mitgenommen.
Ein 13-Jähriger aus Jestetten beschreibt das Gemeinschaftsgefühl besonders eindrücklich: „Hier versteht sich jeder mit jedem, hier gibt‘s keine Feinde.“ Besonders beliebt ist der Jugendraum außerdem, weil hier Gemeinschaft nichts kostet – die Playstation, der Billardtisch, eine große Musikbox und Zusammensein auch bei Regen und Sturm sind für alle zugänglich. Laut Mothes ist das vor allem für Jugendliche essenziell: „Andere Orte sind oft mit Geld verbunden. Aber das ist für Jugendliche, die oft nicht viel Geld haben, schwierig. Deswegen ist es notwendig, dass junge Leute einen Ort haben, der für sie da ist.“ Damit könne auch der zunehmenden Einsamkeit entgegengewirkt werden: „Das ist unbedingt ein Ort, wo man zusammenfindet und Einsamkeit ein Stück weit verlässt.“
An diesen Tagen ist der Raum geöffnet
Rund 20 Jugendliche nutzen den Raum aktiv, grundsätzlich sei der Raum aber natürlich für alle zwischen zwölf und 18 Jahren offen von Mittwoch bis Freitag (16 bis 21 Uhr) offen. Die Öffnungszeiten auf fünf Tage auszuweiten, sei aktuell leider nicht in Aussicht. Dafür bräuchte man einen älteren Jugendlichen oder einen anderen Professionellen, der ein oder zwei Einheiten übernehmen könnte, so Mothes.
Um noch mehr junge Menschen auf den Jugendraum aufmerksam zu machen, möchte Mothes demnächst auch wieder die Schulen einladen, um gemeinsam einen Vormittag im Jugendraum zu verbringen. Und wer weiß, vielleicht entdeckt auch die ein oder andere „Marie“ den Treffpunkt, den sie sich schon so lange wünscht.