Ponderosa. So hießen das Gebäude Mühlenweg 44 und die Wohnwagensiedlung in den 80er- und 90er-Jahren salopp. Benannt nach der Ranch, auf der die Cartwrights in der Fernsehserie Bonanza lebten. Mit Wild-West-Romantik hatte das, was sich hier abspielte, freilich wenig zu tun. Übergriffe, Schlägereien, Körperverletzung oder Brandstiftung waren keine Seltenheit.

„Niemals ohne Polizeischutz“
Ein Feuerwehrmann erinnert sich: „Ohne Polizeischutz sind wir nicht dorthin gefahren.“ Jenische, Punker und Obdachlose hausten hier, von leben wollte damals niemand sprechen. Das Bild hat sich vielleicht nicht grundlegend gewandelt, wohl aber in einem Punkt, wie Markus Schubert, der Leiter der Sozialen Dienste der Stadt, erklärt: „Früher gab es im Mühlenweg die ganz schlimmen Fälle. Heute sind das die Gestrandeten der Mittelschicht.“ Obdachlosigkeit sei nicht das große Problem. „Es sind die normalen Menschen, die aufgrund eines Schicksales abrutschen“, sagt er. „Konstanz ist eine Stadt für Privilegierte, der Wohnungsmarkt ist zu einem Spielball für Investoren geworden.“ Wer da nicht mithalten kann, wird an den Rand gedrängt.

Die Wobak baute 2014 das neue Gebäude Mühlenweg 44a mit zwölf Einzimmer- und sechs Zweizimmerwohnungen. Einmal pro Woche haben Caritas sowie Sozialer Dienst Sprechstunde vor Ort. Die Stadt mietet die Wohnungen und vermietet sie weiter an sozial schwächere Menschen, 370 Euro kostet ein Zwei-Zimmer-Appartement kalt. „Rund 50 Prozent der Mieter haben Unterstützungsbedarf, einige wollen keine Hilfe annehmen“, so Klaus Holzer, Leiter städtische Abteilung Öffentliche Sicherheit. „Wir können niemanden zwingen. Jeder hat ein Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit.“ Wir stellen einige der Bewohner des Mühlenwegs vor.
Frank Schmidt, der Franky

Der 59-Jährige kann kaum mehr laufen, seine Füße sind geschwollen und mit roten Flecken übersät. Er kämpft sich mithilfe einer Krücke voran. „Meistens sitze ich sowieso nur hier und schaue Fernsehen“, sagt er. „So schlimm ist es hier nicht. Ich fühle mich wohl.“ Wenn er wollte, könne er den Mühlenweg von heute auf morgen verlassen. „Ich müsste nur meine Brüder anrufen, die würden mich dann zu sich holen.“
Franky, wie ihn die Nachbarn nennen, war in den 80er- und 90er-Jahren als Obdachloser unterwegs. „Ich war lange auf der Walz“, erzählt er. „Ich komme aus dem Osten und bin 1986 nach Westen gekommen. 20 Jahre habe ich auf der Straße gelebt.“ Für Klaus Holzer, Leiter der städtischen Abteilung Öffentliche Sicherheit, ein typischer Fall: „Menschen können durch lange Obdachlosigkeit entwurzelt werden“, erklärt er. „Und die möchten sich dann auch nicht helfen lassen. Sie sind viel lieber auf sich alleine gestellt.“ Frank Schmidt bestätigt das: „Ich habe am liebsten meine Ruhe und bin alleine. Uwe-Siegfried Aschenbrenner geht aber für mich einkaufen.“
Sami Ferjani, der Tunesier
Der gebürtige Tunesier ist unglücklich mit seiner Situation im Mühlenweg. „Das hier ist das Ende der Welt“, sagt er. „Hier sterben die Menschen, hier lebt niemand wirklich.“ Die Zustände seien eines Landes wie Deutschland unwürdig. „Wir behandeln Tiere besser. Das hier ist wie ein Friedhof.“ Er selbst leide an der Krankheit COPD, einer chronisch fortschreitenden Erkrankung der Lunge. „Ich habe fast immer den Sauerstoffschlauch in der Nase und kann daher auch nur selten rausgehen.“

Er rauche zwar weiterhin, „aber ich trinke keinen Alkohol“. Zuvor wohnte er im Paradies und auf der Reichenau. Die Tochter des 42-Jährigen lebt bei einer Pflegefamilie. „Sie darf hier nicht übernachten“, sagt er. Klaus Holzer, Leiter der städtischen Abteilung Öffentliche Sicherheit, bestätigt das: „Aufgrund des sozialen Umfelds haben wir uns entschieden, im Mühlenweg 44 weder Haustiere noch Kinder zuzulassen. Tagsüber dürfen sich Kinder dort zwar aufhalten, aber nicht nachts.“ Das sei im Interesse der Menschen. „Ich habe dafür kein Verständnis“, so Sami Ferjani.
Sabine Saupp, die Biene
Jeder im Mühlenweg nennt die 53-Jährige nur Biene. Sie hatte eigentlich alles, was ein schönes Leben ausmachen könnte: Sie war auf der anderen Seeseite verheiratet, die Töchter gingen zur Schule, sie betrieb mit ihrem Mann einen Bauernhof mit drei Ferienwohnungen. „Mein Mann starb und alles geriet aus den Fugen“, erzählt sie. „Es ging immer weiter bergab. Ich hatte Schulden, konnte die nicht bezahlen. Heute erhalte ich Hartz IV. Seit fünf Jahren wohne ich hier.“
Sabine Heckel, die Bayerin
Die Bayerin kommt sich vor wie „auf dem Abstellgleis von Konstanz“. Die 46-Jährige ist jedoch glücklich, dass sie eine eigene Dusche hat. „Ich kann mich nicht beschweren, da ich mobil bin“, sagt sie, „aber für ältere Menschen ist das schlimm hier.“ Auch sie kümmert sich um Nachbarn, geht einkaufen oder setzt sich zu ihnen. Der Sommer sei angenehm, fast jeden Abend würden sie hier grillen und vor dem Haus Zeit miteinander verbringen. „Aber im Winter hockt jeder nur in seinem Zimmer.“
Uwe-Siegfried Aschenbrenner, der USA

Uwe-Siegfried Aschenbrenner (links): „Wir sind abseits vom Schuss und ausgegrenzt vom Leben“, sagt Bewohner Uwe-Siegfried Aschenbrenner, von allen nur USA genannt. „Wir sind ein Kilometer entfernt von der Bushaltestelle oder vom Bahnhof. Wer nicht gut zu Fuß ist, kommt hier nicht weg.“ Er geht für einige seiner Nachbarn mit dem Moped einkaufen. „Wenn ich das nicht machen würde, hätten diese Leute ein riesiges Problem“, sagt er. „Wie sollen die älteren Personen denn zum Supermarkt kommen?“
Der 51-Jährige hat als Fertigungs- und Funktionskontrolleur gearbeitet, wohnte in Litzelstetten und war weitgehend zufrieden mit seinem Leben. 2013 begann sein Abstieg, aufgrund einer Krankheit wurde er arbeitsunfähig und wurde verrentet. 2015 zog er in den Mühlenweg. „Natürlich würde ich lieber woanders wohnen, aber ich kann mir nichts leisten.“ Für Markus Schubert ein exemplarischer Fall. „Ein normaler Mensch, der aufgrund eines Schicksals abrutscht“, sagt er. Uwe-Siegfried Aschenbrenner engagiert sich für die Obdachlosenhilfe und setzt sich gegen Armut ein. „Das macht mir Spaß. Ich helfe gerne.“
Helmut Burgwinkel, der Pit
Helmut Burgwinkel (rechts): Der 53-Jährige, den die Freunde und Nachbarn nur Pit rufen, sitzt seit zweieinhalb Jahren in einem elektrischen Rollstuhl. Er hatte damals einen Schlaganfall und ist seither eigentlich ein Pfegefall. „Die ganze linke Seite ist gelähmt“, erzählt er. „Da ist auch nichts mehr zu machen. Ich bin ein Wrack.“ Bis zu seinem Schlaganfall arbeitete er bei der AGJ, der Obdachlosenhilfe in Konstanz. Davor war er als Schausteller im ganzen Land unterwegs.
700 Euro hat er jeden Monat zur Verfügung, wie er sagt: „Das ist zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig.“ Helmut Burgwinkel verlässt sein Ein-Zimmer-Appartement im Mühlenweg 44a nicht oft. „Der Weg in die Stadt ist zu weit für einen Rollstuhlfahrer“, berichtet er. „Selbst zum Zug oder zum Bus ist es sehr anstrengend, da ich ja nur einen Arm zur Verfügung habe.“ Er verbringt die meiste Zeit liegend auf dem Bett und schaut Fernsehen. Die Reifen seines Rollstuhls wurden auf dem Weg zum Supermarkt schon öfter von herumliegenden Glasscherben zerstört. „Dann hilft mit Uwe-Siegfried immer. Er ist ein sehr guter und netter Freund.“
Rainer Reichelt, der Zöllner a.D.
Der 69-Jährige ist in Konstanz kein Unbekannter – er arbeitete viele Jahre als Zollbeamter. „Seit 16 Jahren wohne ich hier“, erzählt er. „Meine Pension reicht nur für die Miete hier.“ Wie viel Geld ihm zur Verfügung steht, möchte er nicht sagen. „Ich kann davon leben, es reicht für mich. Große Sprünge sind aber nicht drin.“ Würde er denn gerne eine größere Wohnung beziehen in der Stadt? „Ich kann ja nichts ändern. So, wie es jetzt ist, ist es in Ordnung. Ich bin soweit zufrieden.“