Der hagere Mann sitzt unbewegt im Landgericht, Fesseln an den Füßen. Drei Tage lang hatte die Kammer unter dem Vorsitz des Richters Arno Hornstein sein Leben durchleuchtet, viele Zeugen und Sachverständige gehört, Fragen gestellt.
Fragen zu einer folgenreichen Tat, die der Angeklagte schon am ersten Tag zugab: Am 8. September 2018 hatte er dem Vater seiner damaligen Freundin nach einem Streit unvermittelt so in den Bauch getreten, dass das damals 66-jährige Opfer nach hinten fiel und ungebremst mit dem Kopf auf dem Asphalt aufprallte.
Seitdem ist der Geschädigte ein Pflegefall der Stufe 5, kann weder selbstständig essen noch trinken, nicht sprechen oder gehen, und erkennt seine Kinder nur an guten Tagen. „Das Geräusch seines Aufpralls werde ich nie wieder vergessen“, sagte seine Tochter. Sie ist ein Teil dieses Familiendramas.
Frühere Taten werden in Freiheitsstrafe miteinbezogen
Am dritten Verhandlungstag wurde nun das Urteil gesprochen: Sieben Jahre Gesamtfreiheitsstrafe, davon eine zweijährige Unterbringung im geschlossenen Entzug. Faktisch allerdings muss der 40-Jährige nicht mehr allzu lange im Gefängnis sitzen: Bei den sieben Jahren werden frühere Taten des Angeklagten mit verrechnet.
Er sitzt bereits seit über zweieinhalb Jahren in Haft, auch das wird berücksichtigt. Nach komplizierten Regeln des Verfahrensrechts mit der Möglichkeit der Strafverkürzung bleibt der Angeklagte nur noch so lange im Strafvollzug, bis er einen Therapieplatz erhält. Diesen kann er sofort beantragen.

Zieht er Entzug und Therapie zwei Jahre lang durch, ist er anschließend ein freier Mann. Der Angeklagte nahm das Urteil zur Kenntnis und sagt dann: „Ich möchte mich für mein Benehmen und die Tat entschuldigen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das gemacht habe. Ich kann die Zeit leider nicht zurückdrehen, das betrübt mich am meisten.“
Gutachter zeichnet erschreckendes Psychogramm
Vor dem Urteil drehte sich alles um eine Frage: War der Angeklagte trotz seines Alkoholkonsums zur Tatzeit steuerungs- und einsichtsfähig? Wusste er also, welche Folgen sein Tritt haben konnten? Aufschluss gab der detaillierte Vortrag des psychiatrischen Gutachters Uli Frick. Der 71-Jährige zeichnete ein erschreckendes Psychogramm des Angeklagten.
Aufgewachsen in Kasachstan, erstes Kiffen mit neun Jahren, später Konsum verschiedener Drogen und Medikamente sowie Alkohol. Der Angeklagte wurde von seinen Eltern abgelehnt, besuchte verschiedene Internate. „Er hatte das Gefühl, als fünftes Rad am Wagen in die Welt gestellt worden zu sein“, sagte Frick.
Der Angeklagte wurde zum Außenseiter, gab nichts auf Gesetze und Strafen – laut Frick sein Selbstrettungsversuch, Buhlen um Aufmerksamkeit.
Eine Wende trat ein, als er seine damalige Freundin kennen lernte. Ihr gegenüber war er liebevoll. Als sie schwanger wurde, schwebten beide auf Wolke sieben: Ein Kind sollte Stabilität bieten. Der heute 40-Jährige trank weniger Alkohol, suchte sich Arbeit, renovierte die Wohnung.
„Dann kam ein erneuter Bruch, als er bei den Behörden brutal gegen die Wand lief“, sagte Uli Frick. Denn der Angeklagte wurde zunächst offiziell nicht als Vater anerkannt: Seine Freundin war noch verheiratet, juristisch galt ihr Mann als Vater – auch wenn sie mit ihm nicht mehr zusammen war.
Das Jugendamt entschied außerdem, dass der Angeklagte und seine Freundin das Kind nicht aufziehen dürfen. Seine Wut richtete sich gegen alle, die ihn daran hinderten, für sein Kind da zu sein; letztlich auch gegen den Geschädigten. Seine Gefühle entluden sich in diesem einen Moment, als er das Opfer trat.
„Das beschreibt man in der Psychologie als narzisstische Krise“, so Uli Frick. „Es ist ein sehr gefürchteter Zustand, denn die Persönlichkeit droht sich aufzulösen.“ Der Psychiater bescheinigte dem Angeklagten eine krankhafte seelische Störung, sagte aber auch: „Auch auf diesem Gipfelpunkt der Wut konnte er sein Handeln noch selbst bestimmen.“
Richter: „Sie haben nur eine Chance, wenn Sie den Entzug nutzen“
So plädierte Staatsanwältin Claudia Fritschi auf eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Sie sah lauter bewusste Handlungen des Angeklagten und keine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit.
Pflichtverteidigerin Christina Gröbmayr dagegen ging aufgrund des Alkoholkonsums und eines emotionalen Ausnahmezustands von verminderter Schuldfähigkeit aus. Das schreckliche Ereignis sei eine Verkettung unglücklicher Umstände. Das Gericht aber folgte der Staatsanwältin.
„Es ist schon bitter, was in einem kurzen Moment aus einem weitgehend gesunden Menschen werden kann“, sagte Richter Arno Hornstein in Bezug auf das Opfer. An den Angeklagten richtete er folgenden Appell: „Ich nehme Ihnen ab, dass Sie die Tat bereuen. Trotzdem haben Sie nur eine Chance, wenn Sie den Entzug nutzen. Sonst sehen wir uns wieder, das ist sicher.“